Madame Bertin steht früh auf
Ladenbesitzer und Verkäuferinnen waren aus ihren Geschäften getreten und schauten interessiert über die Straße, die Fenster füllten sich mit besorgten Bewohnern.
Louise schob sich durch die Menge, bis sie von einem uniformierten Beamten am Weiterkommen gehindert wurde. Sie stellte sich vor und gab sich als Zeugin zu erkennen, die die Polizei informiert hatte. Zu ihrem Erstaunen wurde sie tatsächlich umgehend durchgelassen und zu Lieutenant Jean Luc Balterre geführt, der die Untersuchung leitete.
Der Polizist stand an das Treppengeländer gelehnt und telefonierte. Louise war sich augenblicklich sicher, dass er gerade mit einem höherrangigen Beamten oder seinem direkten Vorgesetzten sprach, da er das Gehörte mit kräftigem Kopfnicken bestätigte und eine andere Körperhaltung eingenommen hatte als im Gespräch mit seinen Kollegen und Untergebenen. Louise blieb höflich in einiger Entfernung stehen. Er bemerkte sie und hob die Hand zum Gruß, dann konzentrierte er sich wieder auf seinen Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung. Louise wartete geduldig, bis er das Gespräch beendete. Nachdenklich betrachtete sie ihn. Sie war gestern Morgen so aufgeregt gewesen, dass sie den Polizisten gar nicht als Individuum wahrgenommen hatte, sondern nur in seiner Funktion als Polizist. Louise überlegte, wie alt er wohl sein mochte. Halb so alt wie sie oder vielleicht sogar noch jünger? Sie tippte auf Anfang dreißig. Der Lieutenant war durchaus ein at- traktiver Mann. Zum welligen, etwas längeren Haupthaar trug er einen gepflegten Oberlippenbart, der ihn ein wenig wie einen Musketier aussehen ließ. Fehlten nur Federhut, Degen und Stiefel. Im Gegensatz zu den Vollzugsbeamten trug er keine Uniform, sondern dunkle Jeans, ein weißes T-shirt und einen Baumwollparka. Louise betrachtete seinen muskulösen Oberkörper, der sich unter dem dünnen Baumwollstoff abzeichnete, und überlegte gerade, ob er wohl oft trainierte, als sie plötzlich angesprochen wurde.
„Madame Bertin.“Lieutenant Balterre hatte sein Gespräch beendet.
Ertappt zuckte sie zusammen, und eine Röte überzog ihr Gesicht. Dabei hatte sie gar keinen anzüglichen Gedanken gehabt. Trotzdem fühlte sie sich ertappt – der Mann war schließlich ein Polizist.
„Ich sehe, Sie haben schon den Weg hierhergefunden. Sie können es wohl nicht lassen herumzuschnüffeln“, stichelte der Mann unverhohlen.
Louise empörte sich innerlich, blieb äußerlich jedoch gefasst und ließ die Kritik abperlen. „Immerhin waren meine Ermittlungen erfolgreicher als Ihre. Ich hoffe, Sie glauben mir jetzt endlich und machen Ihre Arbeit.“Louise kam ein paar Schritte näher. „Ich habe da nämlich so einen Verdacht …“Weiter kam sie nicht.
Der Polizist stieß hörbar die Luft aus und schüttelte den Kopf. „Meine liebe Madame Bertin, obwohl ich Ihre Hartnäckigkeit durchaus zu schätzen weiß, befürchte ich nach wie vor, dass Sie sich irren. Es gibt zwar wirklich eine Tote, die ungefähr in dem Zeitraum verstorben ist, als Sie etwas beobachtet haben wollen. Wir schließen jedoch auf den ersten Blick ein Fremdverschulden aus. Sie sehen: kein Grund, misstrauisch zu sein.“Balterre unterbrach das Gespräch, als er das Geräusch von schweren Schritten über ihnen wahrnahm.
Zwei Leichenbestatter trugen die Leiche in einem schmucklosen Metallsarg herunter. Sie stöhnten, als sie den unhandlichen Sarg um die engen Kurven der Treppe hievten. Louise trat respektvoll einen Schritt zurück und drückte sich an die Wand, als die beiden Männer mit dem Sarg an ihr vorbeigingen. Der Sarg war nicht vollkommen luftdicht verschlossen und zog eine Geruchsspur hinter sich her, die ihr den Atem verschlug. Der ekelerregende Fäulnisgeruch umgab den Sarg wie ein Schwarm Fliegen. Der Lieutenant riss das kleine Klappfenster auf, das in das große Treppenhausfenster eingelassen war, und ging nach draußen, dicht gefolgt von Louise. Sie mochte sich gar nicht ausmalen, wie es in der Wohnung riechen musste. Die arme Cécile. Madame Bertin empfand tiefes Mitleid mit der ihr unbekannten jungen Frau. Man starb, wenn man alt war, und nicht als junger Mensch. Sie betrachtete die Bestatter, bis sie durch den Torbogen verschwanden, und wandte sich dann wieder an den Polizisten: „Und Sie sind sich Ihrer Sache ganz sicher? Ich meine, Sie sind sich ganz sicher, dass es kein Mord war? Kann man das einfach so auf den ersten Blick ausschließen?“
„Also ganz ehrlich, wenn Sie nicht angerufen und solch einen Krawall gemacht hätten, hätten wir den Fall sicherlich gar nicht erst aufgenommen. Von meiner Seite aus hätte es jedenfalls keine Untersuchung gegeben, das ist reine Zeitverschwendung, wenn Sie mich fragen. Das habe ich auch gerade unserem neuen Vorgesetzten, Commissaire Emmanuel Michel, erklärt, aber er besteht darauf, dass wir der Sache gründlich nachgehen und ich zudem mit Ihnen kooperieren soll. Fakt ist: Die arme Frau hat Selbstmord begangen. Mademoiselle Simon hat sich in ihrer Badewanne die Pulsadern aufgeschnitten und ist dann langsam verblutet. Genaueres über die Todesursache und den Zeitraum kann die Rechtsmedizinerin natürlich erst nach der Autopsie sagen. Aber sie hat sich jetzt schon festgelegt auf Tod durch Herzstillstand, wahrscheinlich aufgrund des Blutverlustes. Alle Anzeichen deuten auf einen geplanten Suizid hin: Die Tür war verschlossen, der Schlüssel steckte von innen im Schloss. Wahrscheinlich hätten uns irgendwann die Nachbarn wegen der Geruchsbelästigung informiert; dann hätten wir die Wohnung geöffnet, umgehend die Leiche abtransportiert und zur Bestattung freigegeben. Fin. Durch Ihre unangenehme Hartnäckigkeit haben wir jetzt den ganzen Bürokratiekram am Hals. Ihnen habe ich es zu verdanken, dass ich die Wohnung nach dem Abtransport der Leiche noch einmal gründlich inspizieren muss. Julie Masson: „Madame Bertin steht früh auf“, Copyright © 2018 Rowohlt Verlag Gmbh, Reinbek bei Hamburg. ISBN 978-3-499-27471-8