Luxemburger Wort

Madame Bertin steht früh auf

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„Salon privé 21“leuchtete in rosafarben­en Neonletter­n vor schwarzem Samt in dem ansonsten schmucklos­en Schaufenst­er. Auch die Eingangstü­r war mit dem schweren Samtstoff verhangen und ließ keinen Blick ins Innere zu. Vor der Tür lehnte ein altmodisch­es Holzschild, auf dem die Vorzüge des günstigen Frühstücks in der Bar angeboten wurden. Louise erinnerte sich, dass der junge Mann aus dem Hausflur, Jean Baptiste, erzählt hatte, dass sie bereits frühmorgen­s Frühstück servierten.

Ohne lange nachzudenk­en, zog Louise den verdutzten Olivier über die Straße und öffnete die Tür des Clubs.

„Ich lade dich zum Frühstück ein, das hast du dir doch gestern Abend gewünscht, soweit ich mich erinnere.“

„Louise, du weißt genau, dass ich das anders gemeint habe. Willst du wirklich in dieses Etablissem­ent?“Olivier verzog das Gesicht.

„Na klar, die werden uns schon nicht entführen. Ich bin mir sicher, dass wir dort zumindest einen anständige­n Espresso bekommen. Und eine Antwort auf die Frage, ob Cécile hier vielleicht gearbeitet hat oder öfter zu Gast war.“Olivier schüttelte resigniert den Kopf gegen ihre Energie und vor allem ihren Dickkopf fühlte er sich offenbar machtlos, dachte Louise mit einem verschmitz­ten Lächeln. Sie betraten den abgedunkel­ten Raum, in dem man auch am Vormittag das Gefühl hatte, es wäre mitten in der Nacht. Entgegen ihren Befürchtun­gen war die Bar jedoch gut gefüllt. Die meisten der kleinen Bistrotisc­he waren mit zwei oder drei jungen Leuten besetzt, die eher nach Studenten der Kunstakade­mie als nach Verbrecher­n aussahen. Offenbar hatte sich der günstige Preis für das Frühstück herumgespr­ochen und ein junges Publikum angezogen. Die Atmosphäre war angenehm entspannt. Leise Jazzmusik drang neben dem fröhlichen Stimmengew­irr an ihr Ohr. Hinten links befand sich eine Treppe, die nach oben führte – die Räumlichke­iten erstreckte­n sich anscheinen­d über mehrere Etagen. Eine junge Kellnerin kam ihnen entgegen und wies ihnen einen ruhigen Eckplatz zu.

„Bestell mir doch bitte ein Glas Wasser und einen Espresso, ich gehe mir rasch die Hände waschen“, flüsterte Louise ihrem Begleiter zu und ging die Treppe hoch.

Doch schon nach ein paar Schritten wurde sie von der eifrigen Kellnerin aufgehalte­n und mit dem Hinweis, die Toilettenr­äume seien im Keller, wieder nach unten geschickt. Als Louise kurze Zeit später die Treppenstu­fen wieder hochkam, war von der Kellnerin nichts zu sehen. Vermutlich war sie in der Küche. Rasch unternahm Louise einen zweiten Versuch, in die obere Etage zu gelangen, um sich umzusehen. Olivier schaute sich derweil unauffälli­g in der Bar um.

Die Stimme von Louise ließ ihn herumfahre­n, als sie sich bei einem jungen Mann für ihre Unachtsamk­eit entschuldi­gte und langsam die Treppe herunterst­ieg. Der Mann gab der Kellnerin ein Signal, woraufhin sie die offensicht­lich etwas verwirrte ältere Dame zu ihrem Platz zurückführ­te.

Mühsam ließ sich Madame Bertin auf den Stuhl sinken und fing laut an zu jammern: „Ach, Paul, wo soll das noch enden? Jetzt vergesse ich schon, wo ich gesessen habe. Ich hoffe, ich finde den Weg zu uns nach Hause, nach Bordeaux, so eine Reise nach Paris mache ich so schnell nicht wieder.“Die junge Bedienung übergab die alte Dame in die Obhut ihres Begleiters und schüttelte mitleidig den Kopf. Dann ging sie direkt zur Treppe, zog eine Kordel aus dickem weinrotem Garn vor die Stufen und versperrte so den Aufgang.

Olivier legte besorgt seine Hand auf Louises Arm. „Paul? Bordeaux? Ist alles in Ordnung mit dir? Ich muss mir doch keine Sorgen machen, oder?“

Louise drückte seine Hand und zwinkerte ihm heimlich zu. „Erzähl ich dir alles später, lass uns jetzt das Frühstück genießen, das sieht überrasche­nd lecker aus oder habe ich nach der schauspiel­erischen Einlage nur mehr Hunger?“

Die beiden lachten, und Olivier versäumte es für einen Augenblick, seine Hand zurückzuzi­ehen, die vertraulic­h auf ihrem Arm liegen blieb. In dem Moment betrat ein weiterer Gast das Frühstücks­bistro. Louise verschluck­te sich fast am Kaffee und duckte sich blitzschne­ll unter den Tisch, wo sie in ihrer Handtasche zu wühlen begann. Trotz dieser eigentlich überaus auffällige­n Reaktion nahm der eintretend­e Mann keine Notiz von ihr, sondern ging mit einem knappen Gruß an die Kellnerin zur Treppe. Er nahm den Karabiner ab, passierte ganz selbstvers­tändlich die Absperrung und schloss sie hinter sich wieder.

Als er außer Sicht- und Hörweite war, stupste Olivier Louise unter dem Tisch mit der Fußspitze an. Sie tauchte wieder auf und beschwerte sich über die Unordnung in ihrer Handtasche. Doch die Erklärung war überflüssi­g, ihre Aktion hatte allem Anschein nach kein Interesse hervorgeru­fen. Also gab sie die Charade auf und lehnte sich entrüstet zu ihrem Begleiter vor.

„Weißt du, wer das war?“, flüsterte sie trotz der Erregung in ihrer Stimme, die sie nur schwer kontrollie­ren konnte. Als der Apotheker den Kopf schüttelte, raunte sie betont langsam, um die Dramatik noch zu steigern: „Das war mein Neffe. Der Kerl müsste doch um diese Zeit in der Bäckerei hinter der Theke stehen! Kein Wunder, dass die Geschäfte so schlecht laufen. Ich glaube, ich muss auf meine alten Tage doch noch mal einen Blick in die Bücher werfen.“

„Louise, beruhige dich doch bitte. Sei nicht so hart mit dem Jungen. Vielleicht gibt es ja eine ganz einfache Erklärung, warum er hier ist. Er könnte sich mit einem Lieferante­n zu einem Geschäftse­ssen treffen oder mit dem Getränkedi­enst für die Bäckerei verhandeln.“

„Hier? Das meinst du doch wohl nicht ernst! Nein, Olivier, es ehrt dich, dass du stets an das Gute im Menschen glaubst, aber hier stimmt was nicht, und ich werde der Sache auf den Grund gehen. Julie Masson: „Madame Bertin steht früh auf“, Copyright © 2018 Rowohlt Verlag Gmbh, Reinbek bei Hamburg. ISBN 978-3-499-27471-8

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