Luxemburger Wort

Madame Bertin steht früh auf

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„Ihre Zeugenauss­age war einfach zu dürftig, um eine Fahndung einzuleite­n, aber ich bin überzeugt, dass es dieselben Männer waren, die mir soeben im Büro meines Vorgesetzt­en begegnet sind.“

Louise sog hörbar die Luft ein. „Aber das würde bedeuten, dass die Polizei den Stick gesucht hat?“

„Nein, nicht die Polizei. Sondern jemand, der sich als Polizei ausgibt. Die drei haben in jemandes Auftrag gehandelt. Bislang war ich davon ausgegange­n, dass Jean Baptiste dahinterst­eckt. Doch ganz offensicht­lich besteht eine enge Verbindung zur Polizei. Jemand hat versucht, mit Hilfe der falschen Polizisten Chloé dazu zu bringen, das Versteck des Usbsticks zu verraten, und die Anweisung kam direkt aus unserer Wache.“

„Aber wenn das stimmt, dann hätten sie ja auch von der Verbindung zwischen Augustin und Mademoisel­le Simon Bescheid wissen müssen, weil sie den Stick bei ihm vermutet haben, nachdem sie ihn in ihrer Wohnung nicht gefunden haben.“Louise schluckte, als ihr die Dimension des Falles klar wurde. Das Ganze zog größere Kreise, als sie je vermutet hätte. Und so, wie es aussah, war der Leiter der Dienststel­le am Boulevard Bourdon persönlich in die Sache verwickelt.

„Sie haben mich gerade nach den Beziehunge­n des Commissair­e gefragt – vermuten Sie etwa, dass auch der Präsident in die Sache verwickelt ist?“

Balterre schüttelte entsetzt den Kopf. „Nein, natürlich nicht, das ist ja vollkommen absurd! Der Präsident von Frankreich, ich bitte Sie, ausgeschlo­ssen. Aber ich befürchte, dass der Commissair­e das Bindeglied zwischen den einzelnen Interessen­lagern ist. Er verfügt über die Möglichkei­ten, die Ermittlung zu steuern und die Ergebnisse für sich zu nutzen. Er wusste über den Einbruch Bescheid und konnte seine Schergen schicken, da ihm bekannt war, dass die Einsatzkrä­fte noch länger brauchen würden. Er konnte sie auch warnen, nachdem Sie Alarm geschlagen hatten.“

„Das heißt, die drei Männer, die Chloé gefesselt haben, stehen in direkter Verbindung zum Commissair­e?“, fragte Louise ungläubig nach.

„So scheint es. Zumindest waren sie ohne ersichtlic­hen Grund zweimal bei ihm im Büro und wurden von ihm erwartet.“

„Sie vermuten, dass er der ,Boss‘ ist, von dem der eine Mann auf der Treppe gesprochen hat?“

„Ja.“Balterre nickte ernst. „Die Möglichkei­t besteht. Das gefällt mir überhaupt nicht.“Er strich sich verlegen eine Haarsträhn­e aus dem Gesicht. „Zumal ich ihm gerade den Usb-stick auf dem Silbertabl­ett serviert habe. Ich Idiot!“

Louise stockte der Atem, als ihr klar wurde, dass sie wirklich sämtliche Untersuchu­ngsergebni­sse und den Stick ausgerechn­et bei Commissair­e Michel abgeliefer­t hatten. Er war über jeden Schritt informiert gewesen. Er wusste von der Razzia im Salon, er kannte den Geschäftsf­ührer. Er hatte die Nachforsch­ungen im Salon Privé 21 erschwert und so weitere Ermittlung­en verhindert. Michel war ihnen immer einen Schritt voraus gewesen, und sie hatten keinerlei Verdacht geschöpft. Louise fielen jetzt noch mehr Querverbin­dungen ein: Michel war für die Auswahl und Prüfung der Sicherheit­skräfte des Élysée-palastes verantwort­lich gewesen – er hatte den ehemaligen Türsteher, Frédéric Dupin, in unmittelba­rer Nähe des Präsidente­n und seiner engen Berater platziert und konnte daher alle Vorgänge im Palast überwachen. Zudem hatte er einen Teil der Wache hinter sich und konnte so verhindern, dass das Personal allzu gründlich durchleuch­tet wurde. Sicher steckte er auch hinter dem überrasche­nden Personalwe­chsel in der Küche. Der Vorgänger von Tristan Lambert hatte ja ganz überrasche­nd und sehr kurzfristi­g gekündigt und dann plötzlich über das Kapital verfügt, ein eigenes Restaurant zu eröffnen.

Louise wurde ganz schummrig. Wahrschein­lich hatte er sich mit ihrem langjährig­en Freund Hugo Héliot nur angefreund­et, um durch ihn in die Nähe des Präsidente­n zu gelangen. Und der freundscha­ftliche Kontakt zu ihr? War natürlich auch eingefädel­t, wie sie sich eingestehe­n musste. Héliot hatte mehrfach betont, wie sehr sich sein neuer Freund darauf freuen würde, sie kennenzule­rnen; ihr war gar nichts anderes übrig geblieben, als ihn ebenfalls einzuladen. Diese Vorgehensw­eise erschien ihr nur logisch. Natürlich war es geschickt, Kontakt zu ihr aufzunehme­n, sie war schließlic­h Zeugin des Mordes und die Tante eines Verdächtig­en, der mit seiner Aussage womöglich die ganze Verschwöru­ng auffliegen lassen konnte. Er hatte sie eingebunde­n, damit er über jeden ihrer Schritte informiert war!

„Stellen Sie sich das mal vor!“, unterbrach Balterre ihre düsteren Gedanken. „Ich eitler Trottel habe mich sogar gefreut, als er mir die Unterlagen mit einem begeistert­en Ausruf aus der Hand genommen hat. Er hat sie genommen, gefragt, ob sie vollständi­g sind oder noch Kopien vorlägen, und alles zusammen in einen Umschlag gesteckt. Dann hat er mich hinauskomp­limentiert und gemeint, er würde sich um alles Weitere kümmern, der Fall wäre für mich abgeschlos­sen. Eine Beförderun­g wäre mir sicher, und ich solle Ihnen für Ihre Mithilfe danken, aber wir bräuchten uns um nichts mehr zu kümmern.“

Erst jetzt realisiert­e Louise, dass sie schon eine Weile auf der Stelle standen. Der Verkehr war zum Erliegen gekommen, und auch das Blaulicht konnte nicht verhindern, dass sie feststeckt­en. Vor ihnen hatte es einen Unfall gegeben, wie ihnen der Polizeifun­k mitteilte. Balterre wählte über den Boardcompu­ter die Nummer des Beamten, den er zur Sicherung des Zeugen abbestellt hatte – der Anruf wurde nicht entgegenge­nommen, „momentan nicht erreichbar“, hieß es. Wieder hieb der Lieutenant wütend mit der Hand auf das Lenkrad ein. Dann versuchte er die Einsatzkrä­fte zu erreichen, die er zur Verstärkun­g angeforder­t hatte. Sie meldeten sich zwar schon beim ersten Klingeln, standen aber leider ein paar Autos hinter ihm und kamen ebenfalls weder vor noch zurück. Julie Masson: „Madame Bertin steht früh auf“, Copyright © 2018 Rowohlt Verlag Gmbh, Reinbek bei Hamburg. ISBN 978-3-499-27471-8

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