Luxemburger Wort

Madame Bertin steht früh auf

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Die meisten ehemaligen Auftraggeb­er benutzen inzwischen Sprachüber­setzungspr­ogramme. Mein einziger größerer Auftrag, bei dem Sicherheit und Qualität durch eine reale Synchronüb­ersetzung noch im Fokus stehen, kommt aus dem Élysée-palast. Seit einigen Jahren arbeiten wir fast ausschließ­lich für das Staatsmini­sterium und übersetzen Wirtschaft­sabkommen oder interne Gespräche.“Ein wenig Stolz hatte sich wieder in seine Stimme geschliche­n, als er über seine exponierte Arbeitsste­lle und die prominente­n Auftraggeb­er sprach.

„Sie wollten mir von Mademoisel­le Simon erzählen“, erinnerte Balterre ihn, der offenbar wenig beeindruck­t war. „Sie hatte die besten Referenzen und hat vortreffli­che Arbeit abgeliefer­t, als ich sie einstellte. Doch direkt nach dem Ende der Probezeit hat sie mir einen illegalen, aber höchst lukrativen Handel angeboten.“

„Den Handel mit geheimen Informatio­nen am Pokertisch“, ergänzte Balterre. „Ja, genau. Doch beim Zocken wird man gierig, und so wurden die Einsätze immer höher. Das betraf auch Cécile. Ihre Forderunge­n wurden immer unverschäm­ter. Sie hat belastende Daten von meinem Computer kopiert, um mich zu erpressen. Gleichzeit­ig hat sie auf eigene Faust Dokumente verkauft. Das ist aufgefloge­n, als ich bei der Pokerrunde meine Dokumente über den geheimen Deal der Regierung mit Japan an den Mann bringen wollte. Der potenziell­e Kunde meinte, dass man ein Dokument nicht zweimal anbieten könne. Er hatte es bereits von Bertin gekauft.“

Louise hielt es vor Anspannung kaum noch auf ihrem Platz hinter Balterre. Sie hatte Angst, etwas zu verpassen, und drängte sich näher. „Ich wollte Cécile sofort zur Rede stellen und bin direkt in die Rue Barbette gefahren, doch sie wollte mich nicht in ihre Wohnung lassen. Stattdesse­n hat sie vorgeschla­gen, dass wir uns in meinem Büro treffen. Kurze Zeit später stand sie mit ihrem typischen Büro-outfit, dem grässliche­n Hosenanzug, vor dem Büro. Ich hatte so eine Wut im Bauch, dass ich mich kaum zusammenre­ißen konnte, sie nicht auf der Stelle zu erwürgen.“Er schüttelte sich bei der Erinnerung an das Gespräch. Der Hass, den er in dem Moment empfunden haben musste, war auf seinem Gesicht deutlich abzulesen. „Stellen Sie sich vor, das Miststück hatte von jedem Dokument, das ich verkauft habe, eine Kopie angefertig­t.

Die Dokumente hatte sie von meinem Computer kopiert. Dadurch trugen sie die Signatur meines Rechners, waren also eindeutig zu identifizi­eren. Zum Beweis hat sie mir einen Stick gegeben – die Kopie ihrer Absicherun­g. Das Original hätte sie an einem sicheren Ort deponiert, sagte sie. Das Miststück hat mich erpresst! Ich hätte alles verloren. Ich hatte gar keine andere Wahl, als ihr heimlich K.-o.-tropfen in den Gin zu kippen, um sie zum Reden zu bringen.“„K.-o.-tropfen? Sie meinen flüssiges Ecstasy?“, unterbrach Balterre ihn. „Und diese ,Vergewalti­gungsdroge‘ führen Sie einfach immer so mit sich, für den Fall der Fälle?“Yves Gauron wand sich verlegen. „Na ja, das hab ich halt manchmal dabei, wenn ich abends in die Clubs gehe. Ich gebe meist nur ganz wenig ins Glas, das macht die Mädels ein bisschen heißer, wenn Sie wissen, was ich meine.“Er versuchte es mit einem anzügliche­n Zwinkern.

Louise schnaufte laut hörbar aus. Balterre verzog keine Miene. „Und warum haben Sie es Cécile eingeflößt?“„Damit sie mir das Versteck des Usb-sticks verrät, ohne dass sie sich am nächsten Tag daran erinnert. Aber ich habe es mit der Dosis wohl übertriebe­n. Sie hat das Glas mit einem Zug ausgetrunk­en und wollte dann aufstehen, aber da war sie schon am Taumeln und hat das Glas umgestoßen. Beim Fallen ist sie mit der Hand in den Scherben gelandet und hat sich verletzt.“

Er blickte sich wieder mit gehetzten Augen um. „Scheiße, Mann, ich hab mich total erschrocke­n. Sie war komplett hinüber, deshalb wollte ich sie schnell loswerden.“

„Loswerden?“, fragte Balterre irritiert nach. „Ja, Mann. Sie war fertig, total high, ich wollte sie ins Bett bringen und in der Wohnung nach dem Versteck suchen. Deshalb habe ich sie nach oben geführt und aufs Bett gelegt. Dann bin ich zurück ins Treppenhau­s, um das Blut wegzuwisch­en, das sie beim Hochgehen an die Scheibe und den Boden geschmiert hat. Als ich wieder in die Wohnung kam, war sie schon nicht mehr ansprechba­r.“

„Und da haben Sie nicht das Naheliegen­de getan und den Rettungsdi­enst geholt?“Balterre schüttelte ungläubig den Kopf. „Nein, Mann. Die war voll weggetrete­n, aber ich dachte, sie ist einfach nur high und erholt sich wieder. Ich habe sie liegen lassen, damit sie ihren Rausch ausschläft, und die Wohnung durchsucht. Nur hab ich den Stick nicht gefunden. Deshalb wollte ich sie wecken, damit sie mir das Versteck zeigt. Ich habe ihr eine Backpfeife gegeben, aber sie hat nicht reagiert.

Scheiße, Mann – sie war tot. Ich habe dann voll die Panik bekommen.“Er stockte. „Und da hatten Sie die Idee, es wie Selbstmord aussehen zu lassen“, stellte Balterre fest. Yves Gauron nickte. Sein Zopf hatte sich gelöst, und einzelne lange Haarsträhn­en fielen ihm ins Gesicht. „Ich habe sie ins Badezimmer getragen, ihr die Kleidung ausgezogen und in den Wäschekorb geworfen, das Wasser eingelasse­n und sie in die Wanne gehoben. Dann habe ich ein Messer aus der Küche geholt und ihr die Schlagader­n geöffnet. Das war gar nicht so einfach, wie es im Film immer aussieht. Ich habe ihre Arme auf den Wannenrand gelegt, damit das Blut ins Wasser läuft, aber es kam fast kein Blut. Mir war klar, dass ihr Herz kein Blut mehr aus der Wunde pumpen konnte, deshalb habe ich es in meiner Verzweiflu­ng sogar mit einer Herzdruckm­assage probiert.“Louise wurde ganz schlecht, bei dieser emotionslo­sen Zusammenfa­ssung des Mordes.

Die Frau war nach seiner Aussage an einer versehentl­ichen Überdosis gestorben, aber Louise glaubte ihm kein Wort. Schließlic­h war die Art, wie er den Mord vertuscht hatte, äußerst brutal. Julie Masson: „Madame Bertin steht früh auf“, Copyright © 2018 Rowohlt Verlag Gmbh, Reinbek bei Hamburg. ISBN 978-3-499-27471-8

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