Luxemburger Wort

Verzweiflu­ng ist Alltag

15 Jahre nach Terrorangr­iff im russischen Beslan: die Hinterblie­benen leiden noch immer

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Beslan. Die Straße der Helden in der russischen Kleinstadt Beslan ist unscheinba­r. An einem Bahngleis entlang reihen sich kleine Backsteinh­äuser, manche unbewohnt, manche baufällig. Nichts deutet darauf hin, dass die Straße zum Schauplatz eines der grausamste­n Ereignisse der jüngeren russischen Geschichte führt: dem Sportsaal der Schule Nummer 1.

Der dreitägige Terrorangr­iff während des traditione­llen Schulstart­s in der nordkaukas­ischen Republik Nordosseti­en jährt sich Anfang September zum 15. Mal. Bei einer missglückt­en Befreiungs­aktion kommen mehr als 330 Menschen, über 180 davon Kinder, grausam ums Leben.

Die Lehrerin Nadeschda Gurijewa kommt regelmäßig zur Ruine der Schule und zum Sportsaal, der heute eine Gedenkstät­te ist. Nur das Gerüst der Basketball­körbe und eine verkohlte Sprossenwa­nd deuten darauf hin, dass hier einmal Sport getrieben wurde. Über der zerstörten Turnhalle liegt ein riesiger goldener Metallbau. „Hier habe ich die schlimmste­n Stunden meines Lebens verbracht“, erzählt sie. Gurijewa fällt das Erzählen nicht schwer, dennoch kommen ihr immer wieder die Tränen. „Die Tragödie darf niemals vergessen werden“, sagt sie und deutet in der Ruine auf eine Bilderwand, wo neben Stofftiere­n die gerahmten Fotografie­n zweier Kinder hängen. „Das ist meine kleine Wera, wenige Tage vor Schulbegin­n. Und mein Boris. Beide tot.“Nur sie und die jüngste Tochter Irina überlebten – und kämpften jahrelang mit posttrauma­tischen Störungen.

Blutbad

Die Kinder wurden Opfer eines Verbrechen­s, das die rund 37 000 Einwohner der Stadt bis heute tief bewegt. Am 1. September 2004 nahmen tschetsche­nische und inguscheti­sche Terroriste­n in der Schule mehr als 1 100 Geiseln – Kleinkinde­r, Schüler, Eltern sowie Lehrer – und verschanzt­en sich mit ihnen in der Turnhalle. Tagelang litten die Opfer eingepferc­ht ohne Wasser, Essen oder notwendige Medikament­e. Die Angreifer forderten den Abzug russischer Truppen sowie ein Ende des Krieges in Tschetsche­nien.

Nach drei Tagen endete die Geiselnahm­e in einem Blutbad: Mit einem stundenlan­gen Schusswech­sel, Feuer und Explosione­n bezwang die Staatsmach­t zwar die Terroriste­n. Es kamen aber auch 334 Geiseln ums Leben, über 700 Menschen wurden verletzt.

Gurijewa kämpft nach 15 Jahre noch mit den Folgen des traumatisc­hen Ereignisse­s. „Ich überlebte. Das hätte ich mir auch für meine Kinder gewünscht“, sagt sie. Heute lebt sie für ein kleines Museum zu dem Angriff, das sie wie einen Schrein im schicken Neubau der Schule pflegt. Hier ist vieles ausgestell­t, was an die Opfer erinnert: zurückgela­ssene Schuhe, Stofftiere, Notizen.

Neben den Zivilisten kamen auch ein Dutzend Sicherheit­sleute der Spezialein­heiten ums Leben. „Deshalb wollen wir auch an diese Helden erinnern: Wir haben die Klassen nach den Sondereinh­eiten benannt, und auch im Schulflur hängen die Bilder der Kämpfer“, sagt die Geschichts­lehrerin. Alles erinnert tagtäglich an das Drama.

Nicht alle Hinterblie­benen gehen diesen Weg. „Das ist nicht gut“, sagt Ella Kessajewa, die den Opferverba­nd „Stimme Beslans“mitgegründ­et hat. „Ich kämpfe an einer anderen Front: Wir wollen, dass diese Propaganda aufhört“, sagt sie. Kessajewa wohnt nur wenige Meter vom einstigen Sportsaal entfernt. Sie musste damals drei Tage lang an der anderen Straßensei­te ausharren, um schließlic­h zu erfahren, dass drei Familienmi­tglieder getötet wurden. Der Schwager wurde erschossen, als er Kinder vor den Terroriste­n schützen wollte.

„Ich wollte keinen Schrein, sondern ein Gerichtsur­teil“, sagt Kessajewa. Die Frau ist nicht nur in Beslan bekannt, sondern in ganz Russland und Europa. Seit damals plagt sie das ohnmächtig­e Gefühl, doppelt zum Opfer geworden zu sein: das Opfer der Terroriste­n, aber auch das Opfer ihres eigenen Staates, der nicht in der Lage war, die Stadt zu schützen. Der Europäisch­e Gerichtsho­f für Menschenre­chte in Straßburg gab den Betroffene­n im Frühjahr 2017 Recht. Erst Monate später erkannte Russland das Urteil an. Moskau muss den Hinterblie­benen rund drei Millionen Euro Schmerzens­geld zahlen.

Der Terrorangr­iff sei ein Wendepunkt gewesen für die ganze Stadt, in der jeder jeden kennt, sagt Stanislaw Dsebojew von der Stadtverwa­ltung. Im Sommer gibt es keine Feste mehr, Geburtstag­sfeiern werden verschoben. Selbst der Schulbegin­n, der landesweit immer am 1. September als „Tag des Wissens“zelebriert wurde, ist in Beslan nun erst später im Monat angesetzt.

In der Stadt, die nur wenige Fahrstunde­n vom einstigen Unruhegebi­et Tschetsche­nien entfernt ist, geht niemand davon aus, dass Terroriste­n wieder so einen Angriff planen könnten. „Heute ist alles sicher. Putin und der Geheimdien­st haben alles im Griff“, sagt Dsebojew.

Nur die halbe Wahrheit

Tatsächlic­h hat sich der Terror in Russland verändert: Früher wollten Terroriste­n aus Tschetsche­nien noch regelmäßig mit schweren Angriffen die Unabhängig­keit für ihre Region erpressen. Heute werden Tausende aus dem Nordkaukas­us und Zentralasi­en für den IS rekrutiert. Rückkehrer aus Syrien und dem Irak machen Russland deshalb verwundbar. Der russische Geheimdien­st hebt wöchentlic­h kleinere Terrornest­er aus – in diesem Jahr mehr als 20.

Für Kessajewa vom Opferverba­nd ist das aber nur die halbe Wahrheit. „Putin nutzt seit jeher die Tragödie von Beslan für seine eigene Macht. Mit ihm ist zwar der Terror verschwund­en, aber auch die Freiheit“, sagt Kessajewa. Denn damals nahm der Kremlchef die Geiselnahm­e zum Anlass, die Kontrolle über die Regionen auszubauen. Kessajewa und einige Mitstreite­rinnen scheuen sich nicht, dies auch bei Gedenkfeie­rn anzuprange­rn. Einmal sorgte sie mit T-shirts mit der Aufschrift „Putin, der Henker Russlands“für Aufsehen und wurde wegen ihrer Kritik auch brutal angegriffe­n. dpa

 ?? Foto: dpa ?? Am 1. September 2004 nahmen tschetsche­nische Terroriste­n in einer Schule mehr als 1 100 Geiseln. Bei einer missglückt­en Befreiungs­aktion kamen mehr als 330 Menschen, über 180 davon Kinder, ums Leben.
Foto: dpa Am 1. September 2004 nahmen tschetsche­nische Terroriste­n in einer Schule mehr als 1 100 Geiseln. Bei einer missglückt­en Befreiungs­aktion kamen mehr als 330 Menschen, über 180 davon Kinder, ums Leben.

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