Nachhilfe für „modernes Österreich“
Urteil zu einem Holocaust-überlebenden offenbart schwierige Vergangenheitsbewältigung in der Alpenrepublik
Es kommt nicht alle Tage vor, dass ein Land vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verurteilt wird – so wie Österreich vergangene Woche. Und es wird auch nicht oft passieren, dass so ein Urteil in der medialen und öffentlichen Wahrnehmung kaum „aufschlägt“– also wahrgenommen wird. Was in diesem Fall umso bemerkenswerter ist, als das Urteil ein heikles Thema – die ekelerregende Propaganda Rechtsextremer gegen Holocaust-überlebende – zum Inhalt hat. Der Gerichtshof in Straßburg urteilte jedenfalls, dass österreichische Gerichte es unterlassen hätten, den Ruf des Holocaust-überlebenden Aba Lewit (93) gegen diffamierende Behauptungen in der rechtsgerichteten Zeitschrift „Aula“zu schützen. In einem Artikel des rechtsextremen Blattes waren Befreite des Konzentrationslagers Mauthausen bei Linz im Sommer 2015 als „Massenmörder“, „Kriminelle“und „Landplage“bezeichnet worden.
Lewit brachte gemeinsam mit neun anderen Überlebenden eine Klage ein, die in der Folge mit seltsamen Begründungen – das Kollektiv der Mauthausen-befreiten sei zu groß, als dass jedes einzelne Mitglied durch inkriminierte Aussagen persönlich erkennbar wäre – bis zum Grazer Oberlandesgericht abgelehnt wurden. Also klagte Lewit mit Hilfe der österreichischen Grünen vor dem EGMR und bekam nun Recht. Die Republik muss Lewit mehrere Tausend Euro Schadenersatz zahlen und die Prozesskosten übernehmen. Das Verfahren geht nun wohl in Österreich weiter. Das „alte“Österreich „Die Entscheidung der Grazer Justizbehörden war des modernen Österreichs nicht würdig“, sagte der Präsident der Kultusgemeinde in Österreich, Oskar Deutsch, mit Erleichterung über die Egmr-entscheidung. Was im Umkehrschluss wohl auch heißt: Im „alten“Österreich, das so seine
Die Entscheidung der Grazer Justizbehörden war des modernen Österreichs nicht würdig. Oskar Deutsch
Probleme mit der Aufarbeitung der Nazi-ära hatte, da hätte man mit so etwas vielleicht noch gerechnet.
In der Tat hat die Alpenrepublik ja lange gebraucht, um sich ihrer Vergangenheit zu stellen. Die Tatsache, dass Österreich den Anschluss 1938 überwiegend bejubelt hatte, dass von Hitler über Adolf Eichmann abwärts führende Nazis aus Österreich stammten, dass in den Konzentrationslagern auch mehr als 60 000 österreichische Juden umkamen, wurde lange verdrängt. Nach dem Krieg fanden sich nicht nur in der späteren, von Ex-nazis gegründeten FPÖ, sondern quer durch alle Parteien ehemalige Nazis, die das Land wiederaufbauten. Geduldet, akzeptiert, nach dem Motto: Waren eh fast alle dabei, was hätte man denn damals tun sollen? Österreich redete sich die Opferrolle ein, von Hitler überfallen worden zu sein – und lebte damit kommod. Selbst der heute noch in den Himmel gehobene Spökanzler Bruno Kreisky ließ seine erste Minderheitsregierung 1970 von der FPÖ und ihrem Parteichef Friedrich Peter, einem bekennenden Ss-mann aus dem Bilderbuch, stützen.
Spätes Erwachen
Erst die Affäre Waldheim in den 1980er-jahren brachte eine Wende. Der ehemalige Uno-generalsekretär Kurt Waldheim (ÖVP), den im Laufe seiner Kandidatur zum Bundespräsidenten seine Karriere als junger Offizier der Wehrmacht einholte, repräsentierte das Paradebeispiel des in Nazi-diensten
Österreich setzte sich mit seiner Geschichte plötzlich auseinander.
gestandenen Österreichers, der „nur seine Pflicht getan“(Zitat Waldheim) hatte. Waldheim wurden nie Kriegsverbrechen oder das Wissen um diese an seinem Dienstort Balkan nachgewiesen. Eine Historikerkommission entlastete ihn. Aber er wurde als Staatsoberhaupt international geächtet. Und die Uneinsichtigkeit, dass die Verschleierung und der Umgang mit seiner Vergangenheit ein Fehler war, gab die Initialzündung: Österreich setzte sich mit seiner Geschichte plötzlich auseinander.
Mit der Entschuldigung des damaligen Kanzlers Franz Vranitzky (SPÖ) in Israel für die Rolle Österreichs im Dritten Reich (1993), die nicht nur die eines Opfers, sondern eines Täters gewesen sei, begann das Land im oben zitierten „modernen Österreich“anzukommen. Die Restitution für in Österreich enteignete Juden wurde vorangetrieben und unter Kanzler Wolfgang Schüssel (ÖVP) nach der Jahrtausendwende abgeschlossen, emigrierte Porträts von Holocaustüberlebenden machten bei einer Wiener Ausstellung darauf aufmerksam, dass in österreichischen Konzentrationslagern 60 000 Juden umkamen (Foto oben). Das untere Foto zeigt Aba Lewitt 2014 bei einer Gedenkveranstaltung. Juden werden laufend in ihre alte Heimat eingeladen, die fragwürdige Geschichte hielt Einzug in Unterrichtspläne, Museen und Gedenkstätten, und die Vergangenheit darf heute als „aufgearbeitet“bezeichnet werden.
Mit ein paar Nachhängern. Dass eine Zeitung wie die erwähnte „Aula“, die aus der FPÖ entstand, noch bis 2018 von „Quotenmohren“(über schwarze Songcontest-teilnehmer) schreiben und anderen braunen Schwachsinn verbreiten durfte, ehe sie die Gunst der FPÖ verlor und zusperrte, macht sprachlos.
Rechter Bodensatz
Dass es in der Freiheitlichen Partei immer noch deutschnationale Rechtsausleger gibt, die in Verbindungen mit Nazi-liederbüchern schlagen oder Emigranten in Gedichtform mit Ratten vergleichen, macht ebenfalls sprachlos. Dass diese Ausritte als „Einzelfälle“kleingeredet werden, auch. Seit dem Spruch des Übervaters Jörg Haider von der „wenigstens ordentlichen Beschäftigungspolitik im Dritten Reich“(wegen des Autobahnbaus) hat sich offenbar nicht viel geändert. Zumindest im engsten Wählerkreis der FPÖ.
Dennoch: Dieser Bodensatz hat mit dazu beigetragen, dass die letzte Regierungskoalition mit der FPÖ geplatzt ist. Österreich hat das strengste Wiederbetätigungsgesetz in ganz Europa. Anders als in Deutschland etwa ist die Neonazi-szene in Österreich überschaubar. Und eine wachsame Zivilgesellschaft mitsamt aufmerksamen Medien, was allfällige Verstöße gegen die spät gewonnene aufrichtige Distanzierung von der braunen Vergangenheit betrifft. Im Falle des Holocaust-überlebenden Aba Lewit (93) war es vielleicht auch juristische Gedankenlosigkeit und Paragrafenblindheit, die dazu geführt hat, dass Straßburg nachhelfen musste. Das „moderne Österreich“ist eigentlich anders.