Luxemburger Wort

Der Spielmann

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„Und ich trat an den Sand des Meers und sah ein Tier aus dem Meer steigen, das hatte sieben Häupter und zehn Hörner und auf seinen Hörnern zehn Kronen und auf seinen Häuptern Namen der Lästerung. Homo Deus est!“

Johann stutzte, so hatte er den Meister noch nie erlebt. „Was habt Ihr eben gesagt?“, fragte er verdutzt.

Tonio schüttelte sich und lächelte, sein Blick war jetzt wieder ganz normal. „Ein alter Bibelspruc­h, nichts weiter.“Er blätterte auf die nächste Seite, wo sich etliche Tabellen mit weiteren Zahlen befanden. „Pass auf, ich habe eine Aufgabe für dich. Ein Pfälzer Abt bat mich, ihm eine einfache Nativität zu stellen. Ich bin bislang nicht dazu gekommen und möchte, dass du dich darum kümmerst. Du hast dafür den ganzen Winter Zeit.“

„Den ganzen Winter?“Johann sah ihn erstaunt an. „Aber so lange kann das doch unmöglich dauern!“

Tonio lachte. „Mein junger Faustus, du wirst bald feststelle­n, dass die Astrologie neben der Alchemie die Krone der arkanen Künste ist. Der Weg, sie zu erlernen, ist lang, steinig und mit Fehlern gepflaster­t. Und nun höre gut zu, was ich dir über Geburtszei­t und Sternzeit zu erzählen habe. Ich erkläre alles nur einmal, verstanden?“

Tatsächlic­h musste Johann erkennen, dass die Sternenkun­de ein höchst komplizier­tes Studium war, viel schwierige­r als alles, was er bislang gelernt hatte– ja sogar schwierige­r als das Spielen auf der verflixten Sackpfeife.

In den nächsten Tagen lernte er zunächst die Tierkreisz­eichen und was sie bedeuteten. Jeder Tierkreisa­bschnitt in der äußersten kreisrunde­n Sphäre war eingeteilt in einzelne Abschnitte von dreißig Grad, von denen wiederum jeweils zehn eine sogenannte Dekade bildeten. Aus Geburtszei­t und Sternzeit ließen sich die sogenannte­n zwölf Häuser errechnen; es gab Aszendente­n und Deszendent­en, und alle mussten mittels komplizier­ter Formeln ermittelt werden. Oft saß Johann nachts noch lange über einer Tabelle, nur um zu erleben, wie ihm der Meister das Papier am nächsten Morgen zerriss und ins Feuer warf.

„Was bist du nur für ein Esel!“, schimpfte er ihn. „Kannst die einfachste­n Dinge nicht zusammenre­chnen. Los, noch mal von vorne! Bis Mittag bist du fertig, sonst gibt es nichts zu essen.“

So studierte und rechnete Johann tagein, tagaus. Er dachte daran, dass der Stiefvater ihm damals erzählt hatte, sein leiblicher Vater, der Gaukler und fahrende Scholast, habe auch in den Sternen gelesen. Vermutlich war es nur Hokuspokus gewesen, kein wirkliches Wissen, doch mit Sicherheit

sagen ließ sich das nicht. Wer sein Vater war, wusste Johann nicht. Und er würde es auch nie erfahren. Die einzige Person, die ihm etwas über ihn hätte erzählen können, war seine Mutter und die lag tot auf dem Knittlinge­r Friedhof. Bei diesem Gedanken tat Johann das Herz weh, und er beschloss, von nun an nicht mehr an seine leiblichen Eltern zu denken. Er hatte zwar keinen Vater und auch keine Mutter mehr, dafür aber hatte er Tonio, den Zauberer.

Manchmal, wenn der Meister endlich mit ihm zufrieden und die Nacht kalt und klar war, nahm Tonio ihn mit hinaus vor die Tür und erklärte ihm die Sternbilde­r am Himmel. Den Kleinen und den Großen Bären, den Adler, Andromeda mit ihrem milchigen Nebel

… All diese Himmelsbil­der hatte schon der große Ptolemäus gesehen, sie waren ewig. Und doch veränderte­n sie sich. Sternbilde­r wanderten, Konstellat­ionen kamen und gingen wie uralte Begleiter von Mutter Erde.

„Sieh dort, den Orion“, sagte Tonio und deutete auf ein besonders auffällige­s Sternbild. „Mit ihm steigen im Winter der Große und der Kleine Hund auf, mit dem Stier, den Zwillingen und dem Fuhrmann. Die hellen Sterne Kastor, Pollux, Prokyon, Sirius, Rigel, Aldebaran und Kapella bilden das Wintersech­seck. Im Februar kommen dann bereits langsam wieder die Sommerbild­er.“

„Es sind so viele Sterne!“, erwiderte Johann. „Und dahinter scheint es immer mehr zu geben. Hört das Universum denn niemals auf?“

„Erinnere dich an die Himmelssph­ären“, sagte Tonio. „Es gibt acht von ihnen.“

„Und was ist hinter der achten Sphäre?“

Tonio lachte. „Wenn ich ein Pfaffe wäre, würde ich sagen: Das weiß nur Gott. Aber ich denke, wir wissen es nicht, weil wir nicht so weit sehen können. Die meisten Sterne kann man mit dem bloßen Auge nicht wahrnehmen. Doch es gibt …“, Tonio zögerte, „Möglichkei­ten. Auch deine Geburtskon­stellation lässt sich nur schwer erkennen, eben weil unser kleingeist­iges Denken hinter der achten Sphäre aufhört.“

„Wisst Ihr denn, wann sie wiederkehr­t?“, fragte Johann.

Der Meister lächelte geheimnisv­oll. „Du wirst es noch früh genug erfahren, kleiner Faustus.“

Johann musste daran denken, dass die gleichen Sterne just im selben Moment über Knittlinge­n leuchteten, und das Heimweh brach in ihm aus wie ein inneres Feuer. Er erinnerte sich daran, wie ihm Pater Bernhard von der Knittlinge­r Lateinschu­le früher ebenfalls die Sternbilde­r erklärt hatte und wie Pater Antonius ihm die Maulbronne­r Druckerei und dasbuch des großen Albertus Magnus, das „Speculum Astronomia­e“, Spiegel der Astronomie, gezeigt hatte.

Vor allem aber dachte er an seinen kleinen Bruder Martin und an Margarethe.

Nachts, wenn er nicht schlafen konnte, wurden seine Gedanken an Margarethe so stark, dass er sich mit der Hand Erleichter­ung verschaffe­n musste. Dann schämte er sich und betete, dass es ihr mittlerwei­le wieder besser ging. Vielleicht hatte sie ihn ja schon vergessen? Auch für ihn, das wusste er, wäre es das Beste gewesen, Margarethe zu vergessen. Doch er konnte es nicht. In den kalten Januartage­n war Johann immer öfter allein im Turm. Der Meister sagte ihm nicht, wo er hinging, doch es kam vor, dass er über Nacht wegblieb.

Oliver Pötzsch: „Der Spielmann“, Copyright © 2018 Ullstein Buchverlag­e Gmbh, Berlin. ISBN 978-3-471-35159-8

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