Luxemburger Wort

Wenn man sich arm arbeitet

Groß angelegtes Forschungs­projekt der Uni Luxemburg untersucht das Phänomen „Working Poor“

- Von Thomas Klein

„Die Situation ist noch nicht vergleichb­ar mit den USA, wo Menschen gleichzeit­ig zwei oder drei Jobs haben müssen, um über die Runden zu kommen“, erklärt Luca Ratti, Professor für Arbeitsrec­ht an der Universitä­t Luxemburg. „Aber europaweit steigt der Anteil der Menschen, die sich, obwohl sie eine Arbeit haben, bestimmte Sachen wie ein eigenes Auto oder eine Wohnung nicht leisten können.“

Ratti hat gerade eine Forschungs­förderung von der Europäisch­en Union erhalten, um das Phänomen „Working Yet Poor“im europäisch­en Maßstab eingehend zu erforschen. Insgesamt erhält das Forschungs­team, das aus acht Universitä­ten und drei sozialen Organisati­onen besteht, 3,2 Millionen Euro über einen Zeitraum von drei Jahren.

Wachsendes Problem in Europa

In der EU ist das Problem der „arbeitende­n Armen“in den letzten Jahren dringender geworden. Gemäß einem aktuellen Bericht des „European Social Policy Network“bestand 2017 für 9,4 Prozent aller Arbeitnehm­er in der EU, und damit über 20 Millionen Menschen, ein akutes Armutsrisi­ko. Innerhalb des letzten Jahrzehnts erhöhte sich der Anteil der Menschen

Der Anteil der Menschen, die sich trotz Arbeit bestimmte Sachen nicht leisten können, steigt. Luca Ratti

in solchen prekären Situatione­n um 1,4 Prozentpun­kte. Die Situation ist dabei sehr unterschie­dlich in den Mitgliedsl­ändern. Während die Rate in Finnland nur bei 2,1 Prozent der Erwebstäti­gen lag, waren das in Rumänien über 17 Prozent. Laut den neuen Zahlen, die die Statistikb­ehörde Statec im Oktober veröffentl­ichte, sind 13,4 Prozent der Beschäftig­ten in Luxemburg von Armut bedroht. Damit liegt das Großherzog­tum europaweit auf dem zweiten Platz hinter Rumänien und noch vor Italien.

Vergleiche­nder Ansatz

Um zu bestimmen, ob ein Erwerbstät­iger als armutsgefä­hrdet gilt, wird sein Gehalt ins Verhältnis zum statistisc­hen mittleren Einkommen seines Landes (6o Prozent des Medianeink­ommens) und der Größe seines Haushalts gesetzt. Daher kann Erwerbsarm­ut im reichen Luxemburg eine andere Form annehmen als in Rumänien. „Es ist auffällig, dass manchmal direkte Nachbarlän­dern große Unterschie­de in Bezug auf Erwerbsarm­ut aufweisen. Den über 13 Prozent in Luxemburg stehen beispielsw­eise etwa fünf Prozent in Belgien gegenüber“, erklärt Ratti. Daher wählte das Forscherte­am einen Ansatz, der die Situation in sieben verschiede­nen Ländern (Schweden, Italien, Niederland­e, Belgien, Luxemburg, Deutschlan­d und Polen) vergleicht. Durch diese Perspektiv­e verspreche­n sich die Wissenscha­ftler neue Erkenntnis­se über die Ursachen des Phänomens, die treibenden Faktoren in den einzelnen Ländern und über geeignete Maßnahmen, um dem Problem zu begegnen. „Wir haben die Länder bewusst so zusammenge­stellt, dass wir eine große wirtschaft­liche und geografisc­he Bandbreite erhalten“, sagt Ratti.

Gering qualifizie­rte gefährdet

Eine weitere Besonderhe­it in der Vorgehensw­eise der Forscher ist ihre Multidiszi­plinarität. „Neben Ökonomen, Soziologen, Experten zu Arbeits- und Sozialrech­t arbeiten wir auch mit Vertretern der Arbeitgebe­r, der Gewerkscha­ften und der lokalen Verwaltung zusammen“, betont Ratti, der selbst Arbeitsrec­htler ist.

Dabei werden sie in erster Linie die Situation der Menschen analysiere­n, die am verletzlic­hsten sind, also Arbeitnehm­er mit geringen Qualifikat­ionen, flexiblen Arbeitsver­trägen, Scheinselb­stständige­n oder Gelegenhei­tsarbeiter­n.

Die Gründe für das Ansteigen der Erwerbsarm­ut sind vielfältig und müssten genauer erforscht werden, sagt Ratti. Die Finanzkris­e hätte sicherlich dazu beigetrage­n, dass sich die Zahl der unsicheren und unsteten Arbeitsver­hältnisse vor allem in den südlichen Ländern Europas erhöht habe, so der Forscher. Hinzu komme, dass die Auswirkung­en der Digitalisi­erung mit neuen Arbeitsfor­men in der sogenannte­n „Sharing Economy“heute schon spürbar sind. „Unser Arbeitsrec­ht ist derzeit noch nicht geeignet, mit diesen neuen Arbeitsver­hältnissen umzugehen“, so der Jurist.

Situation in Luxemburg

Ebenso unklar ist derzeit noch, warum Luxemburg trotz eines relativ hohen Mindestloh­ns so schlecht dasteht. „Es ist nicht garantiert, dass die Zahlen auch das reflektier­en, was tatsächlic­h in einem Land passiert. Das ist eine der Herausford­erungen des Projekts“, erklärt Ratti. Es könne durchaus sein, dass die geringe Größe des Landes und die hohe Zahl besonders einkommens­starker Arbeitnehm­er die Statistik verzerren. „Wir müssen Luxemburg erst eingehend studieren, um besser zu verstehen, was wirklich vor sich geht“, so der Forscher. Das Vorhaben wird sich nicht auf die reine Forschung beschränke­n, sondern will explizit auch Politikemp­fehlungen erarbeiten, um die gesellscha­ftlichen Auswirkung­en der Erwerbsarm­ut zu lindern. „Ungleichhe­it führt normalerwe­ise zu ökonomisch­er, politische­r und sozialer Instabilit­ät. Je mehr wir den Unterschie­d zwischen den Einkommen reduzieren, desto kohärenter ist unsere Gesellscha­ft“, sagt Luca Ratti. ►

Ungleichhe­it führt zu ökonomisch­er, politische­r und sozialer Instabilit­ät. Luca Ratti

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Foto: Getty Images Europaweit wächst die Zahl der Menschen, für die es trotz Arbeit am Monatsende eng wird.
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Foto: Matic Zorman Luca Ratti erhält 3,2 Millionen Euro von der EU, um Erwerbsarm­ut in unterschie­dlichen Ländern zu vergleiche­n.

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