Wenn man sich arm arbeitet
Groß angelegtes Forschungsprojekt der Uni Luxemburg untersucht das Phänomen „Working Poor“
„Die Situation ist noch nicht vergleichbar mit den USA, wo Menschen gleichzeitig zwei oder drei Jobs haben müssen, um über die Runden zu kommen“, erklärt Luca Ratti, Professor für Arbeitsrecht an der Universität Luxemburg. „Aber europaweit steigt der Anteil der Menschen, die sich, obwohl sie eine Arbeit haben, bestimmte Sachen wie ein eigenes Auto oder eine Wohnung nicht leisten können.“
Ratti hat gerade eine Forschungsförderung von der Europäischen Union erhalten, um das Phänomen „Working Yet Poor“im europäischen Maßstab eingehend zu erforschen. Insgesamt erhält das Forschungsteam, das aus acht Universitäten und drei sozialen Organisationen besteht, 3,2 Millionen Euro über einen Zeitraum von drei Jahren.
Wachsendes Problem in Europa
In der EU ist das Problem der „arbeitenden Armen“in den letzten Jahren dringender geworden. Gemäß einem aktuellen Bericht des „European Social Policy Network“bestand 2017 für 9,4 Prozent aller Arbeitnehmer in der EU, und damit über 20 Millionen Menschen, ein akutes Armutsrisiko. Innerhalb des letzten Jahrzehnts erhöhte sich der Anteil der Menschen
Der Anteil der Menschen, die sich trotz Arbeit bestimmte Sachen nicht leisten können, steigt. Luca Ratti
in solchen prekären Situationen um 1,4 Prozentpunkte. Die Situation ist dabei sehr unterschiedlich in den Mitgliedsländern. Während die Rate in Finnland nur bei 2,1 Prozent der Erwebstätigen lag, waren das in Rumänien über 17 Prozent. Laut den neuen Zahlen, die die Statistikbehörde Statec im Oktober veröffentlichte, sind 13,4 Prozent der Beschäftigten in Luxemburg von Armut bedroht. Damit liegt das Großherzogtum europaweit auf dem zweiten Platz hinter Rumänien und noch vor Italien.
Vergleichender Ansatz
Um zu bestimmen, ob ein Erwerbstätiger als armutsgefährdet gilt, wird sein Gehalt ins Verhältnis zum statistischen mittleren Einkommen seines Landes (6o Prozent des Medianeinkommens) und der Größe seines Haushalts gesetzt. Daher kann Erwerbsarmut im reichen Luxemburg eine andere Form annehmen als in Rumänien. „Es ist auffällig, dass manchmal direkte Nachbarländern große Unterschiede in Bezug auf Erwerbsarmut aufweisen. Den über 13 Prozent in Luxemburg stehen beispielsweise etwa fünf Prozent in Belgien gegenüber“, erklärt Ratti. Daher wählte das Forscherteam einen Ansatz, der die Situation in sieben verschiedenen Ländern (Schweden, Italien, Niederlande, Belgien, Luxemburg, Deutschland und Polen) vergleicht. Durch diese Perspektive versprechen sich die Wissenschaftler neue Erkenntnisse über die Ursachen des Phänomens, die treibenden Faktoren in den einzelnen Ländern und über geeignete Maßnahmen, um dem Problem zu begegnen. „Wir haben die Länder bewusst so zusammengestellt, dass wir eine große wirtschaftliche und geografische Bandbreite erhalten“, sagt Ratti.
Gering qualifizierte gefährdet
Eine weitere Besonderheit in der Vorgehensweise der Forscher ist ihre Multidisziplinarität. „Neben Ökonomen, Soziologen, Experten zu Arbeits- und Sozialrecht arbeiten wir auch mit Vertretern der Arbeitgeber, der Gewerkschaften und der lokalen Verwaltung zusammen“, betont Ratti, der selbst Arbeitsrechtler ist.
Dabei werden sie in erster Linie die Situation der Menschen analysieren, die am verletzlichsten sind, also Arbeitnehmer mit geringen Qualifikationen, flexiblen Arbeitsverträgen, Scheinselbstständigen oder Gelegenheitsarbeitern.
Die Gründe für das Ansteigen der Erwerbsarmut sind vielfältig und müssten genauer erforscht werden, sagt Ratti. Die Finanzkrise hätte sicherlich dazu beigetragen, dass sich die Zahl der unsicheren und unsteten Arbeitsverhältnisse vor allem in den südlichen Ländern Europas erhöht habe, so der Forscher. Hinzu komme, dass die Auswirkungen der Digitalisierung mit neuen Arbeitsformen in der sogenannten „Sharing Economy“heute schon spürbar sind. „Unser Arbeitsrecht ist derzeit noch nicht geeignet, mit diesen neuen Arbeitsverhältnissen umzugehen“, so der Jurist.
Situation in Luxemburg
Ebenso unklar ist derzeit noch, warum Luxemburg trotz eines relativ hohen Mindestlohns so schlecht dasteht. „Es ist nicht garantiert, dass die Zahlen auch das reflektieren, was tatsächlich in einem Land passiert. Das ist eine der Herausforderungen des Projekts“, erklärt Ratti. Es könne durchaus sein, dass die geringe Größe des Landes und die hohe Zahl besonders einkommensstarker Arbeitnehmer die Statistik verzerren. „Wir müssen Luxemburg erst eingehend studieren, um besser zu verstehen, was wirklich vor sich geht“, so der Forscher. Das Vorhaben wird sich nicht auf die reine Forschung beschränken, sondern will explizit auch Politikempfehlungen erarbeiten, um die gesellschaftlichen Auswirkungen der Erwerbsarmut zu lindern. „Ungleichheit führt normalerweise zu ökonomischer, politischer und sozialer Instabilität. Je mehr wir den Unterschied zwischen den Einkommen reduzieren, desto kohärenter ist unsere Gesellschaft“, sagt Luca Ratti. ►
Ungleichheit führt zu ökonomischer, politischer und sozialer Instabilität. Luca Ratti