Der Spielmann
Die Luke, die in die obere Kammer hinaufführte, sperrte Tonio immer gut ab, und er schärfte Johann auch jedes Mal ein, was ihm blühte, sollte er sich über das Verbot hinwegsetzen.
Wenn der Meister dann von seinen Ausflügen zurückkam, sah er immer sehr zufrieden aus. Gelegentlich brachte er neue Bücher mit, die meisten über Astronomie und Alchemie, und Johann wunderte sich, woher er sie wohl hatte. Manchmal hatte der Meister auch mit Korken versiegelte Tonkrüge dabei oder Ledersäcke, in denen unförmige Dinge steckten. Die Säcke waren unten feucht, so als befände sich darin etwas Nasses. Johann wagte nicht, danach zu fragen, er beugte sich stattdessen tief über seine Bücher. Er hatte den Eindruck, dass Tonio nach den nächtlichen Ausflügen besser genährt aussah, nicht mehr so blass, sondern rosiger und fleischiger im Gesicht. Wahrscheinlich ging er im Dorfwirtshaus gut essen und trinken, während er, Johann, im Turm mit hungrigem Magen an dem vermaledeiten Horoskop irgendeines Pfaffen saß! Manchmal, wenn er von seiner Arbeit hochsah und den Käfig mit den Rabenvögeln betrachtete, kam es ihm wieder einmal so vor, als würden sie ihn beobachten, um dem Meister
später von seinem Tun zu erzählen.
„Gottverfluchte Viecher!“, rief er und schleuderte ein Holzscheit nach dem Käfig, der daraufhin wild hin und her schwang. Die Vögel krächzten so lebhaft, als würden sie ihn verspotten, und der Rabe starrte ihn böse an.
„Kraaaat!“, machte er, „kraaat, kraaaat!“, und Johann hielt sich die Ohren zu, um die schnarrende, fast menschliche Stimme nicht mehr zu hören.
Wenn Johann die Tabellen und Zahlen überhaupt nicht mehr sehen konnte, ging er Holzhacken draußen im Wald, buk duftende Brotfladen über dem Feuer, übte seine Zaubertricks, warf das Messer oder blätterte in einigen Büchern, die ihm der Meister zum Studium überlassen hatte. Das Lesen war Johann schon immer leichtgefallen, nun wurde er auch im Lateinischen besser. Er las flüssig und schnell, und er behielt das meiste. Wenn ihn Tonio gelegentlich abfragte, konnte er fast alles detailgetreu wiedergeben. Dann ließ der Meister das Buch sinken und sah Johann lange und nachdenklich an.
„Mir scheint, du bist ein besserer Gelehrter als ein Gaukler und Spielmann“, sagte er schließlich. „Johann Georg Faustus, in dir stecken so manche Geheimnisse.“
Tatsächlich kam die Gaukelei in den Wintermonaten zu kurz, dafür war Johann viel zu sehr mit dem Horoskop beschäftigt, das ihm der Meister aufgegeben hatte. Es sollten noch vier weitere Wochen vergehen, bis die Nativität des Pfälzer Abts endlich fertig war. Nachdem Johann den letzten Pinselstrich gesetzt hatte, ging er hinunter in die untere Turmkammer im Erdgeschoss, wo Tonio wie so oft mit seinen Büchern am Tisch saß.
„Hier“, sagte Johann in trotzigem Tonfall und reichte Tonio die beschriebene Pergamentrolle. Er rechnete fest damit, dass der Meister auch diesmal wieder etwas auszusetzen hatte, doch zu seinem großen Erstaunen schien er keinen einzigen Fehler zu finden. Aufmerksam las er die Tabellen und Johanns Anmerkungen, schließlich nickte er zufrieden.
„Was für ein langweiliger Kerl dieser Abt doch ist. Seine Sterne sind grau und unscheinbar.“Tonio lachte. „Aber die Nativität ist in Ordnung. Hier und da ein paar kleine Schludrigkeiten, doch ansonsten eine gute Arbeit. Im Grunde habe ich nichts anderes erwartet. Du hast in den letzten Wochen bewiesen, dass du begabt bist. Begabter als viele andere Schüler, die ich vor dir hatte. Schscht, ihr Biester!“Sein Blick ging hinüber zu den Vögeln im Käfig, die wild zu krächzen begonnen hatten und nun unruhig auf der Stange tippelten.
Johann atmete erleichtert aus, doch der Meister drohte ihm sogleich mit dem Finger. „Das war nur eine einfache Übung, Bursche. Das Horoskop eines blassen Abts, nichts weiter. Werde also nicht gleich eingebildet! Es kommen noch viel schwerere Prüfungen auf dich zu. Besonders dann, wenn wir uns irgendwann auch der Alchemie zuwenden, der Krone der arkanen Künste. Aber für den Augenblick wollen wir es gut sein lassen.“Er klatschte in die Hände. „Wir sollten dein erstes Horoskop feiern. Ich schlage vor, du gehst ins Dorf und holst uns ein kleines Fässchen Wein, Brot und ein paar fette Räucherwürste. Na, was hältst du davon?“
Johann nickte begeistert. Bislang hatte ihm der Meister immer verboten, ins Dorf zu gehen, vor allem, um keinen Verdacht zu erregen. Dies würde sein erster Ausflug werden, seitdem sie vor fast drei Monaten in den Turm gezogen waren.
„Wasch dir vorher das Gesicht.“Tonio zwinkerte ihm zu. „Und lass dich nicht mit den Dorfmädchen
ein. In den letzten Wochen bist du ordentlich gewachsen und siehst nun recht ansehnlich aus, größer und auch kräftiger. Wenn sie dich fragen, bist du nichts weiter als ein wandernder Kesselflickergeselle, verstanden? Wir wollen keine Unannehmlichkeiten. Und nun geh schon. Ich sehe doch, wie es dich juckt“. Er warf ihm ein paar Münzen zu. „Ich will nicht den schlechtesten Wein. Wehe, du kaufst uns irgendeinen Fusel!“
Grinsend fing Johann die Münzen auf. Dann griff er sich den Mantel seines Stiefvaters, der mittlerweile ziemlich alt und abgetragen aussah und an den Ärmeln viel zu kurz war, und eilte nach draußen.
Die Sonne schien, und die ersten Vögel begrüßten tschilpend den nahenden Frühling. Während Johann durch den Schnee stürmte, fiel die Last der vergangenen Wochen wie Blei von ihm ab.
Der Meister wartete ab, bis die Schritte des Jungen verklungen waren. Dann begab er sich nach oben in die Turmkammer, um das Ritual vorzubereiten. Das Blut, das er in einem kleinen Fässchen aufbewahrte, war zwar schon etwas geronnen, doch für seine Zwecke würde es wohl noch ausreichen. Bedächtig verrührte er die klebrige Masse, hielt den Finger hinein und leckte ihn genüsslich ab.
Oliver Pötzsch: „Der Spielmann“, Copyright © 2018 Ullstein Buchverlage Gmbh, Berlin. ISBN 978-3-471-35159-8