Zeiten des Zorns
In Lateinamerika begehren die Menschen gegen Ungleichheit und Machtarroganz auf
Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet die chronische Krisenrepublik Argentinien in diesen Tagen verglichen mit den Nachbarländern Chile und Bolivien fast ein Hort der Stabilität ist. Es mag daran liegen, dass die Argentinier so an die Krise gewöhnt sind, dass Hunger und Inflation schon fester Bestandteil ihres Lebens geworden sind. Aber es hat sicher auch damit zu tun, dass sie wissen, es kommt wieder etwas Neues. Am Sonntag haben sie Mauricio Macri abgewählt, der gerade einmal vor vier Jahren zum Heilsbringer erkoren worden war.
In diesen Zeiten des Zorns bekommen Präsidenten in Lateinamerika selten eine zweite Chance. Wer nicht liefert, wird abgewählt. Aber wie man in diesen Tagen sieht, geraten auch amtierende Regierungen schwer in Bedrängnis, wenn sie sich der Arroganz der Macht schuldig machen. Es kann der Verdacht der Wahlmanipulation sein wie in Bolivien, die gnadenlose Ausbeutung der Bevölkerung wie in Chile, der Erlass unpopulärer Maßnahmen wie Preiserhöhungen, um internationale Geldgeber zu befriedigen wie in Ecuador. Oder alles zusammen wie in Haiti. Sozialer Protest bringt Regierungen in ganz Lateinamerika in Bedrängnis und manchmal ins Wanken. Und anders als die repressionserfahrenen Regime in Venezuela und Nicaragua wirken
Gewaltsame Proteste gegen die Regierenden wie hier in Chile gehören derzeit in ganz Lateinamerika zum alltäglichen Bild. die Machthaber in Ecuador und Chile regelrecht verschreckt und lenken unter dem Druck der Straße ein. In Argentinien verdiente sich der neoliberale Präsident Macri die Abwahl mit Überheblichkeit, Naivität, Klientelpolitik und Kritikunfähigkeit. Es sind in gewisser Weise Übel, die viele lateinamerikanische Machthaber eint, egal ob sie links oder rechts stehen.
Es sollte Alberto Fernández eine Warnung sein, der im Dezember sein Amt im Präsidentenpalast in Buenos Aires antritt. Er muss schnell den Hunger bekämpfen und die galoppierenden Preise in Zaum halten. Wenn er nicht innerhalb der ersten sechs Monate im Amt die drängendsten Probleme in den Griff bekommt, dann könnte ihm drohen, was gerade die Staatschefs in Chile und Bolivien erleben und der Präsident von Ecuador jüngst durchmachte: „Cacerolazos“, Topfschlagen. Klingt harmlos, ist aber Sinnbild für die Unzufriedenheit der Menschen mit ihren Regierungen und dem Staat als solchem. Die Menschen gehen mit Töpfen, Pfannen und Löffeln auf die Straße und machen mächtig Lärm, um so ihren Protest zum Ausdruck zu bringen.
Die Rebellion ist dabei in gewisser Weise entideologisiert. Sebastián Piñera in Chile und Evo Morales in Bolivien sind Exponenten rechter und linker Extreme in der Region – und sie haben den gleichen Stress mit ihren Landsleuten – einer Bevölkerung, die sich benutzt und missbraucht vorkommt, die das Gefühl hat, dass die Machthaber nur für die Eliten und nicht für das Volk regieren.
Amtsinhaber, die Recht beugen, um sich im Präsidentenpalast zu verewigen oder Präsidenten, die ihr Land in ein neoliberales Kaufhaus verwandeln, in dem alle Dienstleistungen vom Strom über die Bildung und die Gesundheit nur dazu da sind, dass sich die Unternehmen bereichern. Die politischen und wirtschaftlichen Eliten Lateinamerikas seien von einer „erstaunlichen Gefühllosigkeit und Blindheit“, kritisiert der mexikanische Schriftsteller Antonio Ortuño.
Lateinamerika ist noch immer die ungleichste Region auf der Welt. Unter den 650 Millionen Latinos gibt es die größten Habenichtse, aber eben auch einige der reichsten Menschen des Planeten. Zudem sind Gewalt und Korruption gleichsam konstituierende Merkmale der Länder zwischen Mexiko und Argentinien. Und so versagen in der Region nicht die Regierungen. Es versagen die Staaten.
Die Gefahr ist, dass sich die Menschen von demokratischen Alternativen abwenden und autoritäre Regime bevorzugen, die schnelle und einfache Lösungen für komplexe Probleme versprechen. Der rechtsradikale Jair Bolsonaro ist in Brasilien dafür das beste Beispiel. Aber diese Machthaber gründen ihre Politik auf Ausgrenzung und Demokratieverachtung. An den Kern des Problems gehen auch sie nicht.