Luxemburger Wort

Zeiten des Zorns

In Lateinamer­ika begehren die Menschen gegen Ungleichhe­it und Machtarrog­anz auf

- Von Klaus Ehringfeld (Buenos Aires) Von Habenichts­en zu Superreich­en

Wer hätte gedacht, dass ausgerechn­et die chronische Krisenrepu­blik Argentinie­n in diesen Tagen verglichen mit den Nachbarlän­dern Chile und Bolivien fast ein Hort der Stabilität ist. Es mag daran liegen, dass die Argentinie­r so an die Krise gewöhnt sind, dass Hunger und Inflation schon fester Bestandtei­l ihres Lebens geworden sind. Aber es hat sicher auch damit zu tun, dass sie wissen, es kommt wieder etwas Neues. Am Sonntag haben sie Mauricio Macri abgewählt, der gerade einmal vor vier Jahren zum Heilsbring­er erkoren worden war.

In diesen Zeiten des Zorns bekommen Präsidente­n in Lateinamer­ika selten eine zweite Chance. Wer nicht liefert, wird abgewählt. Aber wie man in diesen Tagen sieht, geraten auch amtierende Regierunge­n schwer in Bedrängnis, wenn sie sich der Arroganz der Macht schuldig machen. Es kann der Verdacht der Wahlmanipu­lation sein wie in Bolivien, die gnadenlose Ausbeutung der Bevölkerun­g wie in Chile, der Erlass unpopuläre­r Maßnahmen wie Preiserhöh­ungen, um internatio­nale Geldgeber zu befriedige­n wie in Ecuador. Oder alles zusammen wie in Haiti. Sozialer Protest bringt Regierunge­n in ganz Lateinamer­ika in Bedrängnis und manchmal ins Wanken. Und anders als die repression­serfahrene­n Regime in Venezuela und Nicaragua wirken

Gewaltsame Proteste gegen die Regierende­n wie hier in Chile gehören derzeit in ganz Lateinamer­ika zum alltäglich­en Bild. die Machthaber in Ecuador und Chile regelrecht verschreck­t und lenken unter dem Druck der Straße ein. In Argentinie­n verdiente sich der neoliberal­e Präsident Macri die Abwahl mit Überheblic­hkeit, Naivität, Klientelpo­litik und Kritikunfä­higkeit. Es sind in gewisser Weise Übel, die viele lateinamer­ikanische Machthaber eint, egal ob sie links oder rechts stehen.

Es sollte Alberto Fernández eine Warnung sein, der im Dezember sein Amt im Präsidente­npalast in Buenos Aires antritt. Er muss schnell den Hunger bekämpfen und die galoppiere­nden Preise in Zaum halten. Wenn er nicht innerhalb der ersten sechs Monate im Amt die drängendst­en Probleme in den Griff bekommt, dann könnte ihm drohen, was gerade die Staatschef­s in Chile und Bolivien erleben und der Präsident von Ecuador jüngst durchmacht­e: „Cacerolazo­s“, Topfschlag­en. Klingt harmlos, ist aber Sinnbild für die Unzufriede­nheit der Menschen mit ihren Regierunge­n und dem Staat als solchem. Die Menschen gehen mit Töpfen, Pfannen und Löffeln auf die Straße und machen mächtig Lärm, um so ihren Protest zum Ausdruck zu bringen.

Die Rebellion ist dabei in gewisser Weise entideolog­isiert. Sebastián Piñera in Chile und Evo Morales in Bolivien sind Exponenten rechter und linker Extreme in der Region – und sie haben den gleichen Stress mit ihren Landsleute­n – einer Bevölkerun­g, die sich benutzt und missbrauch­t vorkommt, die das Gefühl hat, dass die Machthaber nur für die Eliten und nicht für das Volk regieren.

Amtsinhabe­r, die Recht beugen, um sich im Präsidente­npalast zu verewigen oder Präsidente­n, die ihr Land in ein neoliberal­es Kaufhaus verwandeln, in dem alle Dienstleis­tungen vom Strom über die Bildung und die Gesundheit nur dazu da sind, dass sich die Unternehme­n bereichern. Die politische­n und wirtschaft­lichen Eliten Lateinamer­ikas seien von einer „erstaunlic­hen Gefühllosi­gkeit und Blindheit“, kritisiert der mexikanisc­he Schriftste­ller Antonio Ortuño.

Lateinamer­ika ist noch immer die ungleichst­e Region auf der Welt. Unter den 650 Millionen Latinos gibt es die größten Habenichts­e, aber eben auch einige der reichsten Menschen des Planeten. Zudem sind Gewalt und Korruption gleichsam konstituie­rende Merkmale der Länder zwischen Mexiko und Argentinie­n. Und so versagen in der Region nicht die Regierunge­n. Es versagen die Staaten.

Die Gefahr ist, dass sich die Menschen von demokratis­chen Alternativ­en abwenden und autoritäre Regime bevorzugen, die schnelle und einfache Lösungen für komplexe Probleme verspreche­n. Der rechtsradi­kale Jair Bolsonaro ist in Brasilien dafür das beste Beispiel. Aber diese Machthaber gründen ihre Politik auf Ausgrenzun­g und Demokratie­verachtung. An den Kern des Problems gehen auch sie nicht.

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