Keine Superstars
Europas Rückstand auf China und die USA bei Schlüsseltechnologien wird größer
Für den Patienten maßgeschneiderte Krebsimpfungen, eigenständig lernende Algorithmen, faltbare Bildschirme: Kaum ein Tag vergeht, ohne dass eine neue Durchbruchsinnovation vermeldet wird.
Zunehmend haben diese Entwicklung aber eins gemeinsam: Sie kommen aus den USA oder aus China, aber nicht aus Europa. Gerade bei den zukünftigen Schlüsseltechnologien wie künstliche Intelligenz, Genomforschung und Quantum Computern droht der Alte Kontinent, den Anschluss zu verlieren.
Zu diesem Schluss kommt auch eine aktuelle Studie des Analysehauses Mckinsey Global Institute (MGI). Die Autoren der Untersuchung haben errechnet, dass der Anteil europäischer Unternehmen an den weltweiten Ausgaben für Forschung und Entwicklung (F&E) in den letzten fünf Jahren um über zwei Prozent zurückgegangen ist.
Demgegenüber konnten amerikanische und chinesische Firmen ihren Anteil um zwei beziehungsweise sechs Prozent erhöhen.
Unternehmen forschen zu wenig
Während Europa bei den öffentlichen Forschungsausgaben recht gut dasteht, sind es vor allem die privaten Unternehmen, die zu wenig forschen. Lediglich 19 Prozent der weltweiten F&e-ausgaben entfallen auf europäische Firmen, während chinesische (24 Prozent) und amerikanische Gesellschaften (28 Prozent) weniger knauserig mit den Forschungsmitteln sind.
Laut der Studie halten sich die europäischen Firmen besonders bei den riskanteren Investitionen in Grenztechnologien zurück. Beispielsweise stammen 90 Prozent der Forschungsgelder für synthetische Biologie aus den USA. Deutlich besser sieht es hingegen in traditionellen Branchen wie der Autoindustrie aus.
Nachzügler bei KI
Besonders schmerzhaft könnte sich der Rückstand in einem Bereich auswirken, der das Potenzial hat, beinahe jede Branche umzukrempeln: der künstlichen Intelligenz. Auch hier sind es laut dem Mgi-bericht amerikanische und chinesische Unternehmen, die die Maßstäbe setzen, sowohl in der Entwicklung als auch in der Anwendung.
„Die Probleme Europas, neue Technologien zu entwickeln, diese voranzutreiben und davon zu profitieren, sind bekannt: Risikoaversion, Überregulierung, Bürokratie, [...] “, sagt Leon van der Torre, Professor für künstliche Intelligenz an der Universität Luxemburg. „Die Reaktionen auf wissenschaftliche und technologische Möglichkeiten sind in der Regel zu spät, zu zaghaft und zu politisiert, was das Ki-debakel erneut deutlich macht.“Dabei wären die möglichen Erträge immens: Die Autoren der Mgi-studie gehen davon aus, dass Europa seine Wirtschaftsleistung bei einem konsequentem Einsatz von KI bis 2030 um 2,7 Billionen Euro steigern könnte.
„Superstar-effekt“
Die Gründe für den wachsenden Rückstand der europäischen Unternehmen sind vielfältig. Zum einen verhindert der immer noch zum Teil fragmentierte Binnenmarkt, dass europäische Unternehmen in dem Maße von einem großen Heimatmarkt profitieren können, wie es chinesischen und amerikanischen Unternehmen möglich ist.
Zum anderen berufen sich die Studienautoren auf den sogenannten „Superstar-effekt“. Damit ist gemeint, dass bestimmte Firmen sich eine beherrschende Marktposition erarbeitet haben, die ihnen ungewöhnlich hohe Profitraten beschert. Da sie einen großen Teil der Mittel wiederum in Forschung und Übernahmen investieren, vergrößert sich der Abstand
zur Konkurrenz immer weiter. Durchschnittlich stecken solche Firmen mehr als doppelt so viele Ressourcen in F&E als normale Unternehmen.
Beispiele dafür sind Google, Amazon oder Facebook in den USA oder Tencent und Alibaba in China. Europäische Beispiele dieser Größenordnung gibt es keine. Insgesamt ist der Anteil der europäischen Unternehmen, die die Mgi-studie als Superstars einstuft, in den letzten 20 Jahren um etwa 50 Prozent zurückgegangen.
Den Rückstand aufholen
Der Report macht aber auch einige Vorschläge, wie Europa den Rückstand aufholen könnte. Unter anderem regen sie an, eine aktivere Wirtschaftspolitik zu verfolgen, die bewusst darauf hinarbeitet, europäische „Champions“in den Schlüsselbereichen zu kreieren und direkt in diese Bereiche zu investieren.
In eine ähnliche Richtung weisen Vorschläge zur Schaffung eines 100 Millionen Euro schweren „European Future Funds“, die bereits in den Schubladen der Eukommission liegen. Ein solches Vorhaben könnte allerdings an den wettbewerbsrechtlichen Bedenken einiger Mitglieder scheitern.
Als eine große Stärke Europas sehen die Autoren die Bereitschaft zur Kooperation. Sie zitieren Erfolgsbeispiele wie die „European Automotive and Telecoms Alliance“, eine Forschungszusammenarbeit zwischen Automobilherstellern und Telekommunikationsanbietern.
Schließlich heben die Autoren die Fähigkeit der EU hervor, durch eine kohärente Gesetzgebung in neuen Technologiefeldern, wie zum Beispiel die neue Datenschutzverordnung, globale Standards zu setzen.