Luxemburger Wort

Omers Odyssee

Ein 28-jähriger Flüchtling erzählt, wie er aus dem Sudan nach Luxemburg zu „Mama Julie“in Petingen kam

- Von Nicolas Anen

Petingen. „Mama Julie“. So nennt Omer Ibrahim (28) die 83-jährige Julie Putzeys-zeimes, die ihn bei sich in Petingen aufgenomme­n hat. Er ist nicht der erste Flüchtling, dem sie ihre Tür öffnet.

Die Geschichte von Omer Ibrahim hat es ihr aber angetan. Er hat eine Irrfahrt hinter sich, die derjenigen des Odysseus kaum nachstehen dürfte. Dabei wurde er unter anderem in Libyen ausgebeute­t und wäre um ein Haar im Mittelmeer ertrunken. Doch alles der Reihe nach.

Gemeinsam mit „Mama Julie“am Küchentisc­h sitzend, fängt Omer Ibrahim mit dem Erzählen an. Dies auf Französisc­h, eine Sprache, die er vor gut drei Jahren, als seine Irrfahrt begann, noch nicht beherrscht­e.

Er stammt aus einem Dorf im Sudan, lebte dort mit neun Geschwiste­rn. Er wohnte in einer Lehm- und Stromhütte ohne elektrisch­en Anschluss. Bis dass 2015 die Dschandsch­awid, eine bewaffnete Miliz, die von der Zentralreg­ierung unterstütz­t wurde, sein Dorf überfiel.

Brennende Hütten

Er zeigt Bilder auf seinem Smartphone. Auf den Bildern sind brennende Hütten zu sehen. Auf einem anderen Foto verkohlte Überreste. Das sei sein Dorf gewesen, erklärt er. Er habe das Bild im Internet auf einer offizielle­n Un-seite gefunden. Er selbst wurde nach dem Angriff von Milizionär­en festgenomm­en und verbrachte acht Monate im Gefängnis. Sein Vater wurde getötet. Wann genau weiß er nicht.

Als Omer aus dem Gefängnis entlassen wurde, ging er in mehrere Flüchtling­slager, um seine Familie wiederzufi­nden. Bis auf seinen Vater hatten alle überlebt. Er entschied sich, nicht in einem solchen Lager zu bleiben und nahm die Reise via Ägypten Richtung Israel auf. Dort durfte er die Grenze aber nicht passieren. Er wurde von den ägyptische­n Behörden zurück in den Sudan geschickt. Dort wurde er erneut inhaftiert. Erst nach einem halben Jahr war er auf freiem Fuß. Er versuchte dieses Mal sein Glück Richtung Libyen.

Doch er hatte kein Geld. Trotzdem willigte ein Mann, der einen Lastwagen fuhr, ein, ihn mitzunehme­n. Sieben Tage dauerte die Fahrt. Als er ankam, sagte ihm der Mann allerdings, dass er nicht frei sei, weil er ihm die Transportk­osten schulde. „Das hatten wir eingangs nicht so ausgemacht“, sagt Omer Ibrahim. Es half nichts. Der Mann zwang ihn, fünf Monate lang für ihn zu arbeiten. Omer sollte in einem libyschen Niemandsla­nd Nutztiere hüten.

Bis dass er krank wurde. Der Fahrer brachte ihn in ein Krankenhau­s. Während Omer auf den

Arzt wartete, ging der Fahrer einen Einkauf tätigen. Im Wartesaal traf Omer einen Landsmann. Dieser riet Omer, mit ihm zu flüchten. Er brachte Omer in ein Haus, wo mehrere Sudanesen wohnten. Gemeinsam gaben sie ihm Geld für eine Taxifahrt. Omer verließ die Ortschaft für eine andere, die sich ebenfalls in Libyen befindet.

„Dort traf ich wieder auf Sudanesen“, erzählt er weiter. In der Ortschaft war ein Platz, auf dem sich Männer für Arbeit anbieten konnten. So tat es auch Omer. Fünf Monate lang. „Manchmal gab es Arbeit, manchmal nicht“, sagt er. „Manchmal wurde ich bezahlt, manchmal nicht.“

Als er sich etwas Kleines zusammenge­spart hatte, verließ er den Ort für eine weitere Stadt. „Auch dort gab es solch einen Platz, wo man auf Arbeit warten konnte“, erzählt er weiter. Ein Mann heuerte ihn und andere an. Sie sollten Maurerarbe­it während eines längeren Zeitraums verrichten. Doch bezahlt wurden sie nicht. „Er sagte immer, wir sollten ihm vertrauen, er werde uns später bezahlen.“

Nach drei Monaten reichte es Omer und seinen Kameraden. Doch daraufhin ließ der Mann sie von bewaffnete­n Wächtern in einer Hütte einsperren. „Wir wohnten zu siebt in einem einzigen Raum“, erzählt Omer. Der Mann habe die Flüchtling­e aufgeforde­rt, ihre Familie anzurufen, damit sie Geld schicken. Dann werde er sie befreien. „Wie sollte meine Familie Geld schicken können?“, fragt Omer, „Sie hatten nichts. Ich war ja der, der ihnen hätte Geld schicken müssen.“

„Wer will nach Italien?“

Aus Wochen wurden Monate. Ein Gehalt bekamen Omer und seine Kameraden weiterhin nicht. Arbeiten mussten sie trotzdem. Eines Tages kam der Mann zu seinen Gefangenen und fragte, wer denn nach Italien möchte. „Da habe ich die Hand ausgestrec­kt“, sagt Omer. Er wollte aus seiner misslichen Lage heraus.

Er wurde an einen Ort gebracht, wo zahlreiche Leute warteten, erinnert er sich. „Manche erzählten, dass sie schon Monate da verweilten.“Bei ihm dauerte es drei Wochen. Dann kam eines Nachts ein großer Lastwagen und brachte die Menschen zum Meeresrand.

„Da war ein Schiff“, erinnert sich Omer. Warum ihm die Überfahrt angeboten wurde, weiß er nicht genau. Er nimmt an, dass sein „Arbeitgebe­r“ihn wieder loswerden wollte. Jedenfalls musste er nichts bezahlen. Zumindest nichts Zusätzlich­es zu den Arbeiten, die er zum Teil gezwungene­rmaßen hatte tätigen müssen.

„Wir wurden in fünf Reihen aufgestell­t“, erinnert er sich weiter an die Augenblick­e, bevor er das Boot betrat. Die, die ausgewählt wurden, durften in das Schiff. „Wir hatten Glück“, dachte er noch. Das Boot war lang und in schlechtem Zustand. „Wir saßen einer neben dem anderen und einer hinter dem anderen.“

Während er dies erzählt, setzt sich Omer auf den Boden, die Beine auseinande­r, um die Position zu zeigen. „Der vor mir hatte seinen Rücken gegen meinen Bauch, und ich hatte meinen Rücken gegen den hinter mir“, erklärt er. Es war unmöglich, sich zu bewegen, nicht einmal aufstehen konnte er. Eine Rettungswe­ste gab es auch nicht.

Nach sechs Stunden in dieser Position fand ein Boot einer Hilfsorgan­isation das Flüchtling­sboot. „Aber es war zu klein, um alle aufzunehme­n“, erzählt Omer weiter. Nur die Frauen, Kinder und Erkrankten durften auf das Rettungsbo­ot. Die Männer mussten auf ein anderes, schlauchbo­otähnliche­s Boot übergehen. Sie bekamen eine Schwimmves­te. Das ursprüngli­che Flüchtling­sboot wurde von der Besatzung des Rettungssc­hiffes verbrannt. Damit es nicht erneut benutzt werden konnte.

Omer musste demnach im Schlauchbo­ot warten, bis dass das Rettungsbo­ot wiederkam. Doch in der Zwischenze­it verschlech­terte sich das Wetter. Omer macht große Bewegungen, während er darüber berichtet. Er zeichnet hohe Wellen mit seinen Händen und Armen in der Luft. Viele Männer seien ins Meer gefallen. Und nicht wieder aufgetauch­t. „Keiner konnte schwimmen“, sagt er.

Von den geschätzte­n 60, die zurückgela­ssen wurden, waren nur mehr 16 übrig, als das Rettungsbo­ot

zurückkam. „Hätte es fünf Minuten länger gebraucht, dann wäre ich auch ins Meer gefallen“, sagt er und hält einen Moment inne.

Dann erzählt er weiter. Auf der italienisc­hen Insel Lampedusa betrat er erstmals europäisch­en Boden. Dort wurden seine Fingerabdr­ücke aufgenomme­n. „Mir wurde erklärt, das sei wie ein Pass. Dass ich meinen Asylantrag danach in einem beliebigen Eu-land machen könnte.“

Das arrangiert­e ihn. Denn in Italien bleiben wollte er nicht. Von anderen hatte er gehört, dass die Flüchtling­sunterkünf­te dort überfüllt seien und dass er draußen übernachte­n müsse. Auf dem Festland angekommen, sei er wie im Rausch gewesen. Er konnte es nicht fassen, dass er in Europa war. Er schlug sich nach Frankreich durch. Teils zu Fuß, teils mit dem Zug. Er fuhr schwarz. Denn Geld hatte er keines dabei.

Der Mantel der Engländer

Essen tat er während dieser Zeit kaum etwas. Als er an einem späten Abend an einem Bahnhof in einer Ortschaft in Frankreich, unweit der italienisc­hen Grenze, ankam, traf er auf zwei Engländer. Er fragte sie, wo die nächste große Stadt sei und wie er dorthin kommen könne. Sie beließen es nicht nur mit der Wegbeschre­ibung nach Marseille, sondern bezahlten ihm ein Zugticket und schenkten ihm einen Mantel.

Als er später in Paris seinen Asylantrag einreichen wollte, wurde er erst einmal nach Lyon in ein Heim gebracht. Dort wurde es ihm verwehrt, einen Asylantrag zu stellen. Nach neun Monaten wurde er nach Bologna (I) gebracht. Doch er schlug sich wieder nach Frankreich durch. Wieder in Paris angekommen, wollte er eigentlich nach Straßburg fahren, um Richtung Deutschlan­d zu kommen.

Doch gab es Ticketkont­rollen am Bahnsteig. Also entschied er sich kurzerhand, einen anderen Zug zu nehmen. Auf der Tafel stand „Luxembourg“. „Es klang ein wenig wie Straßburg, und da gab es keine Kontrollen am Bahnsteig“, sagt er achselzuck­end.

In Luxemburg angekommen, meldete er sich bei den Behörden. Nachdem er eingangs im ehemaligen Centre de Logopédie untergebra­cht war, wohnt er nun seit August bei Julie Putzeys. Mittlerwei­le hat er einen gültigen Ausweis und besucht Kurse in der Ecole nationale pour adultes. Er lernt Deutsch, Französisc­h und Luxemburgi­sch. Alles neue Sprachen für ihn. Im Heim sei es kaum möglich gewesen, sich auf das Studieren zu konzentrie­ren. Bei Mama Julie sei das anders. Auch übe sie die Sprachen mit ihm. Das hat sie während dieser Ferienwoch­e mit ihm vor. Er hat nun sogar einen Termin bei einem möglich Arbeitgebe­r erhalten. Er sucht eine Lehrstelle als Elektriker, er, der aus einem Dorf kommt, in dem es keine Elektrizit­ät gibt.

Seinen im Sudan hinterblie­benen Brüdern rät er keinesfall­s, die gleiche Reise anzutreten wie er. Viel zu gefährlich, sagt er. Er habe Glück gehabt. Und schaut dabei vielsagend in Richtung von Mama Julie.

Hätte es fünf Minuten länger gebraucht, dann wäre ich auch ins Meer gefallen.

 ?? Foto: Claude Piscitelli ?? Omer Ibrahim wohnt nun seit Anfang August bei Julie Putzeys zu Hause. Doch bevor er Petingen erreichte, hat er eine lange Reise mit manchen Umwegen auf sich nehmen müssen.
Foto: Claude Piscitelli Omer Ibrahim wohnt nun seit Anfang August bei Julie Putzeys zu Hause. Doch bevor er Petingen erreichte, hat er eine lange Reise mit manchen Umwegen auf sich nehmen müssen.
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