Omers Odyssee
Ein 28-jähriger Flüchtling erzählt, wie er aus dem Sudan nach Luxemburg zu „Mama Julie“in Petingen kam
Petingen. „Mama Julie“. So nennt Omer Ibrahim (28) die 83-jährige Julie Putzeys-zeimes, die ihn bei sich in Petingen aufgenommen hat. Er ist nicht der erste Flüchtling, dem sie ihre Tür öffnet.
Die Geschichte von Omer Ibrahim hat es ihr aber angetan. Er hat eine Irrfahrt hinter sich, die derjenigen des Odysseus kaum nachstehen dürfte. Dabei wurde er unter anderem in Libyen ausgebeutet und wäre um ein Haar im Mittelmeer ertrunken. Doch alles der Reihe nach.
Gemeinsam mit „Mama Julie“am Küchentisch sitzend, fängt Omer Ibrahim mit dem Erzählen an. Dies auf Französisch, eine Sprache, die er vor gut drei Jahren, als seine Irrfahrt begann, noch nicht beherrschte.
Er stammt aus einem Dorf im Sudan, lebte dort mit neun Geschwistern. Er wohnte in einer Lehm- und Stromhütte ohne elektrischen Anschluss. Bis dass 2015 die Dschandschawid, eine bewaffnete Miliz, die von der Zentralregierung unterstützt wurde, sein Dorf überfiel.
Brennende Hütten
Er zeigt Bilder auf seinem Smartphone. Auf den Bildern sind brennende Hütten zu sehen. Auf einem anderen Foto verkohlte Überreste. Das sei sein Dorf gewesen, erklärt er. Er habe das Bild im Internet auf einer offiziellen Un-seite gefunden. Er selbst wurde nach dem Angriff von Milizionären festgenommen und verbrachte acht Monate im Gefängnis. Sein Vater wurde getötet. Wann genau weiß er nicht.
Als Omer aus dem Gefängnis entlassen wurde, ging er in mehrere Flüchtlingslager, um seine Familie wiederzufinden. Bis auf seinen Vater hatten alle überlebt. Er entschied sich, nicht in einem solchen Lager zu bleiben und nahm die Reise via Ägypten Richtung Israel auf. Dort durfte er die Grenze aber nicht passieren. Er wurde von den ägyptischen Behörden zurück in den Sudan geschickt. Dort wurde er erneut inhaftiert. Erst nach einem halben Jahr war er auf freiem Fuß. Er versuchte dieses Mal sein Glück Richtung Libyen.
Doch er hatte kein Geld. Trotzdem willigte ein Mann, der einen Lastwagen fuhr, ein, ihn mitzunehmen. Sieben Tage dauerte die Fahrt. Als er ankam, sagte ihm der Mann allerdings, dass er nicht frei sei, weil er ihm die Transportkosten schulde. „Das hatten wir eingangs nicht so ausgemacht“, sagt Omer Ibrahim. Es half nichts. Der Mann zwang ihn, fünf Monate lang für ihn zu arbeiten. Omer sollte in einem libyschen Niemandsland Nutztiere hüten.
Bis dass er krank wurde. Der Fahrer brachte ihn in ein Krankenhaus. Während Omer auf den
Arzt wartete, ging der Fahrer einen Einkauf tätigen. Im Wartesaal traf Omer einen Landsmann. Dieser riet Omer, mit ihm zu flüchten. Er brachte Omer in ein Haus, wo mehrere Sudanesen wohnten. Gemeinsam gaben sie ihm Geld für eine Taxifahrt. Omer verließ die Ortschaft für eine andere, die sich ebenfalls in Libyen befindet.
„Dort traf ich wieder auf Sudanesen“, erzählt er weiter. In der Ortschaft war ein Platz, auf dem sich Männer für Arbeit anbieten konnten. So tat es auch Omer. Fünf Monate lang. „Manchmal gab es Arbeit, manchmal nicht“, sagt er. „Manchmal wurde ich bezahlt, manchmal nicht.“
Als er sich etwas Kleines zusammengespart hatte, verließ er den Ort für eine weitere Stadt. „Auch dort gab es solch einen Platz, wo man auf Arbeit warten konnte“, erzählt er weiter. Ein Mann heuerte ihn und andere an. Sie sollten Maurerarbeit während eines längeren Zeitraums verrichten. Doch bezahlt wurden sie nicht. „Er sagte immer, wir sollten ihm vertrauen, er werde uns später bezahlen.“
Nach drei Monaten reichte es Omer und seinen Kameraden. Doch daraufhin ließ der Mann sie von bewaffneten Wächtern in einer Hütte einsperren. „Wir wohnten zu siebt in einem einzigen Raum“, erzählt Omer. Der Mann habe die Flüchtlinge aufgefordert, ihre Familie anzurufen, damit sie Geld schicken. Dann werde er sie befreien. „Wie sollte meine Familie Geld schicken können?“, fragt Omer, „Sie hatten nichts. Ich war ja der, der ihnen hätte Geld schicken müssen.“
„Wer will nach Italien?“
Aus Wochen wurden Monate. Ein Gehalt bekamen Omer und seine Kameraden weiterhin nicht. Arbeiten mussten sie trotzdem. Eines Tages kam der Mann zu seinen Gefangenen und fragte, wer denn nach Italien möchte. „Da habe ich die Hand ausgestreckt“, sagt Omer. Er wollte aus seiner misslichen Lage heraus.
Er wurde an einen Ort gebracht, wo zahlreiche Leute warteten, erinnert er sich. „Manche erzählten, dass sie schon Monate da verweilten.“Bei ihm dauerte es drei Wochen. Dann kam eines Nachts ein großer Lastwagen und brachte die Menschen zum Meeresrand.
„Da war ein Schiff“, erinnert sich Omer. Warum ihm die Überfahrt angeboten wurde, weiß er nicht genau. Er nimmt an, dass sein „Arbeitgeber“ihn wieder loswerden wollte. Jedenfalls musste er nichts bezahlen. Zumindest nichts Zusätzliches zu den Arbeiten, die er zum Teil gezwungenermaßen hatte tätigen müssen.
„Wir wurden in fünf Reihen aufgestellt“, erinnert er sich weiter an die Augenblicke, bevor er das Boot betrat. Die, die ausgewählt wurden, durften in das Schiff. „Wir hatten Glück“, dachte er noch. Das Boot war lang und in schlechtem Zustand. „Wir saßen einer neben dem anderen und einer hinter dem anderen.“
Während er dies erzählt, setzt sich Omer auf den Boden, die Beine auseinander, um die Position zu zeigen. „Der vor mir hatte seinen Rücken gegen meinen Bauch, und ich hatte meinen Rücken gegen den hinter mir“, erklärt er. Es war unmöglich, sich zu bewegen, nicht einmal aufstehen konnte er. Eine Rettungsweste gab es auch nicht.
Nach sechs Stunden in dieser Position fand ein Boot einer Hilfsorganisation das Flüchtlingsboot. „Aber es war zu klein, um alle aufzunehmen“, erzählt Omer weiter. Nur die Frauen, Kinder und Erkrankten durften auf das Rettungsboot. Die Männer mussten auf ein anderes, schlauchbootähnliches Boot übergehen. Sie bekamen eine Schwimmveste. Das ursprüngliche Flüchtlingsboot wurde von der Besatzung des Rettungsschiffes verbrannt. Damit es nicht erneut benutzt werden konnte.
Omer musste demnach im Schlauchboot warten, bis dass das Rettungsboot wiederkam. Doch in der Zwischenzeit verschlechterte sich das Wetter. Omer macht große Bewegungen, während er darüber berichtet. Er zeichnet hohe Wellen mit seinen Händen und Armen in der Luft. Viele Männer seien ins Meer gefallen. Und nicht wieder aufgetaucht. „Keiner konnte schwimmen“, sagt er.
Von den geschätzten 60, die zurückgelassen wurden, waren nur mehr 16 übrig, als das Rettungsboot
zurückkam. „Hätte es fünf Minuten länger gebraucht, dann wäre ich auch ins Meer gefallen“, sagt er und hält einen Moment inne.
Dann erzählt er weiter. Auf der italienischen Insel Lampedusa betrat er erstmals europäischen Boden. Dort wurden seine Fingerabdrücke aufgenommen. „Mir wurde erklärt, das sei wie ein Pass. Dass ich meinen Asylantrag danach in einem beliebigen Eu-land machen könnte.“
Das arrangierte ihn. Denn in Italien bleiben wollte er nicht. Von anderen hatte er gehört, dass die Flüchtlingsunterkünfte dort überfüllt seien und dass er draußen übernachten müsse. Auf dem Festland angekommen, sei er wie im Rausch gewesen. Er konnte es nicht fassen, dass er in Europa war. Er schlug sich nach Frankreich durch. Teils zu Fuß, teils mit dem Zug. Er fuhr schwarz. Denn Geld hatte er keines dabei.
Der Mantel der Engländer
Essen tat er während dieser Zeit kaum etwas. Als er an einem späten Abend an einem Bahnhof in einer Ortschaft in Frankreich, unweit der italienischen Grenze, ankam, traf er auf zwei Engländer. Er fragte sie, wo die nächste große Stadt sei und wie er dorthin kommen könne. Sie beließen es nicht nur mit der Wegbeschreibung nach Marseille, sondern bezahlten ihm ein Zugticket und schenkten ihm einen Mantel.
Als er später in Paris seinen Asylantrag einreichen wollte, wurde er erst einmal nach Lyon in ein Heim gebracht. Dort wurde es ihm verwehrt, einen Asylantrag zu stellen. Nach neun Monaten wurde er nach Bologna (I) gebracht. Doch er schlug sich wieder nach Frankreich durch. Wieder in Paris angekommen, wollte er eigentlich nach Straßburg fahren, um Richtung Deutschland zu kommen.
Doch gab es Ticketkontrollen am Bahnsteig. Also entschied er sich kurzerhand, einen anderen Zug zu nehmen. Auf der Tafel stand „Luxembourg“. „Es klang ein wenig wie Straßburg, und da gab es keine Kontrollen am Bahnsteig“, sagt er achselzuckend.
In Luxemburg angekommen, meldete er sich bei den Behörden. Nachdem er eingangs im ehemaligen Centre de Logopédie untergebracht war, wohnt er nun seit August bei Julie Putzeys. Mittlerweile hat er einen gültigen Ausweis und besucht Kurse in der Ecole nationale pour adultes. Er lernt Deutsch, Französisch und Luxemburgisch. Alles neue Sprachen für ihn. Im Heim sei es kaum möglich gewesen, sich auf das Studieren zu konzentrieren. Bei Mama Julie sei das anders. Auch übe sie die Sprachen mit ihm. Das hat sie während dieser Ferienwoche mit ihm vor. Er hat nun sogar einen Termin bei einem möglich Arbeitgeber erhalten. Er sucht eine Lehrstelle als Elektriker, er, der aus einem Dorf kommt, in dem es keine Elektrizität gibt.
Seinen im Sudan hinterbliebenen Brüdern rät er keinesfalls, die gleiche Reise anzutreten wie er. Viel zu gefährlich, sagt er. Er habe Glück gehabt. Und schaut dabei vielsagend in Richtung von Mama Julie.
Hätte es fünf Minuten länger gebraucht, dann wäre ich auch ins Meer gefallen.