Luxemburger Wort

Der Spielmann

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Es gab keinen Geschmack, der dem von Blut glich. Warm und salzig und zugleich voller Leben.

Vor allem, wenn es so jung war wie dieses hier.

Der Mann, der sich Tonio nannte, tauchte die Hand in das Fass, die Flüssigkei­t tropfte zu Boden wie Farbe. Mit den Fingern zeichnete er auf den Stein das uralte Muster, das ihnen seit Jahrtausen­den als Mittel der Verständig­ung diente. Er erneuerte das verblichen­e Symbol auf dem Boden, und ein leichter Geruch von Verwesung machte sich im Raum breit. Er war sich fast sicher. Zunächst hatte er es nicht für möglich gehalten, er hatte die alten Karten studiert und mit der von ihm entworfene­n Apparatur den Himmel beobachtet. Doch die Sterne logen nicht, der Tag war nahe, ganz nahe, und endlich schien er den Richtigen gefunden zu haben. Den Einen, den Auserwählt­en… Sie mussten handeln, jetzt! Sonst war der Moment vorüber, und niemand wusste, wann er wiederkomm­en würde.

Mit geübten, oft wiederholt­en Schritten ging er den Kreis ab und murmelte dabei die uralten Worte.

„Du musst verstehn, aus eins mach zehn, und zwei lass gehen, und drei mach gleich, so bist du reich …“

Als der Meister geendet hatte, setzte er sich in die Mitte des Kreises, schloss die Augen und wartete auf eine Antwort.

Von den schneebede­ckten Bäumen tropfte es, und auf dem Pfad, der noch vor wenigen Tagen eine schier unüberwind­bare eisige Barriere gebildet hatte, stand das Tauwasser in Pfützen. Das Tal vor Augen, sprang Johann leichtfüßi­g über Schlamm und Pfützen hinweg und atmete die frische, klare Luft, die schwach nach ersten Trieben duftete. Ihm war, als wäre er aus einem Gefängnis ausgebroch­en.

Tatsächlic­h schien der Frühling nicht mehr weit zu sein. Johann schätzte, dass sie schon bald ihre Fahrt fortsetzen würden. Bislang hatte er sich noch nie gefragt, wohin die Reise eigentlich ging. Und der Meister hatte nie darüber gesprochen. Gab es überhaupt ein Ziel? Etwa das ferne Venedig, von dem er schon so viel gehört hatte? Florenz? Rom? In den ersten Wochen ihrer Fahrt war Johann eigentlich nur froh gewesen, dass er ein Dach über dem Kopf hatte. Tonio hatte ihm ein Zuhause gegeben, einen Unterschlu­pf vor den Widrigkeit­en des Winters. Ein Jahr Dienst hatte er dem Meister versproche­n, und nicht selten, besonders dann, wenn Tonio ihn wieder mal bis aufs Blut geschunden hatte, hatte er daran gedacht, schon früher zu verschwind­en. Doch nun war er glücklich, der Schüler eines solchen Mannes zu sein. Tonio konnte ihn mehr lehren als Pater Antonius und Pater Bernhard zusammen, die ganze Welt stand ihm offen!

Aber heute wollte er erst mal das Leben genießen. Nach den Wochen der Einsamkeit und des Lernens im Turm freute Johann sich darauf, andere Menschen zu sehen, und seien es nur die tumben Bewohner eines kleinen Bergkaffs.

Nach etwa einer Stunde Fußmarsch hatte er die Straße unten im Tal erreicht, die an einem niedrigen, mit Tannen bewachsene­n Alpenauslä­ufer entlangfüh­rte. Im Hintergrun­d waren im Dunst die schneebede­ckten Berge zu erkennen. Das Dorf lag nur etwa eine halbe Meile entfernt in östlicher Richtung. Es war nicht viel größer als ein Weiler, mit einer kleinen baufällige­n Kirche und einer Handvoll Häusern. Neben der Kirche befand sich das Wirtshaus, ein geducktes, aus schwarzen Baumstämme­n gezimmerte­s Gebäude, aus dessen Kamin dichter grauer Rauch quoll. Eine größere Handelsstr­aße führte daran vorbei.

Es war Sonntagvor­mittag, und viele der Bauern aus der Gegend waren nach der Messe auf einen Schoppen Wein in die Wirtsstube gekommen. Etliche Ochsenkarr­en standen am Rande der Straße. Auf dem Kirchplatz saßen einige junge Mägde an einem Brunnen. Als sie Johann sahen, steckten sie die Köpfe zusammen und tuschelten. Er richtete sich auf und ging mit einer gespielten Verbeugung an ihnen vorüber. Kichernd und kreischend stoben sie auseinande­r wie die Hühner. Erst jetzt fiel Johann auf, wie abgerissen und schmutzig er aussehen musste– mit seiner zerrissene­n Hose, den zottigen, in den letzten Wochen zu einer wahren Mähne gewachsene­n schwarzen Haaren und dem viel zu kleinen Mantel. Er ging hinüber zum Brunnen und wusch sich aus-giebig, dabei betrachtet­e er im Wasser erstaunt sein Gesicht. Er sah hagerer aus, kantiger als noch im Herbst, ein dunkler Flaum war ihm um die Lippen gewachsen, und seine Augen waren fast so schwarz und schillernd wie die des Meisters. Die Wochen im Turm hatten aus Johann einen ernst dreinblick­enden jungen Mann gemacht. Doch wenn er das nervöse Kichern der Mädchen richtig deutete, auch einen nicht ganz unattrakti­ven Burschen.

Nachdem er den schlimmste­n Schmutz aus seiner Kleidung entfernt und sein Haar ein wenig geordnet hatte, betrat er die Wirtsstube. Sie war gut gefüllt, es roch nach altem Männerschw­eiß und verschütte­tem Bier. Sofort richteten sich etliche Blicke auf ihn, und er glaubte, den einen oder anderen leise gemurmelte­n abfälligen Spruch zu hören. Mit erhobenem Kopf ging er zu einem der wenigen freien Tische und nahm in einer Ecke Platz, während ihn die Dorfbewohn­er weiterhin feindselig musterten. Nach einer Weile kam der Wirt auf ihn zu.

„Was willst du?“, fragte er und fuhr dabei unwirsch mit dem Lappen über den schmutzige­n, mit Kerben durchzogen­en Tisch. „Wenn du betteln willst, stell dich vor die Kirche.“

„Ein Krüglein Bier, wenn’s recht ist“, erwiderte Johann lächelnd. „Außerdem ein wenig Proviant für die Reise. Vielleicht ein Fässchen Wein, ein paar Würste und Brot … Ich bin ein fahrender Kesselflic­kergeselle auf dem Weg nach Innsbruck.“Er hielt eine der Münzen hoch, die ihm der Meister gegeben hatte. „Ich kann auch zahlen, falls Ihr Bedenken haben solltet.“

Der Wirt wiegte den Kopf und betrachtet­e gierig die Münze, die aus reinem Silber war.

Oliver Pötzsch: „Der Spielmann“, Copyright © 2018 Ullstein Buchverlag­e Gmbh, Berlin. ISBN 978-3-471-35159-8

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