Lesen und lesen lassen
Heute Abend steigt in Walferdingen die Party: Ein Viertel Jahrhundert im Dienste des Buches darf nicht nur, es soll, ja es muss gefeiert werden. Denn als am 8. Oktober 1995 die erste „Journée du livre luxembourgeois“Besucher im Centre Prince Henribegrüßte, hätten wohl nicht einmal die Kühnsten zu träumen gewagt, dass später einmal aus der Saat im Nährboden des Europäischen Kulturhauptstadtjahres 1995 die mehrtägigen Walfer Bicherdeeg keimen würden. Inzwischen bieten sie der Luxemburger Literatur die verdiente öffentliche Plattform, deren Publikumszuspruch stetig wächst. Mehr noch als ein schmuckes Schaufenster sind die Walfer Bicherdeeg tatsächlich ein Glaubensbekenntnis zum gedruckten Wort.
Und ein solches hat das Buch dringend nötig. Nicht erst seit gestern durchlebt es unruhige Zeiten, wird regelmäßig totgesagt und hat es gewiss schwer mit Konkurrenten wie Netflix und Co. Allen Unkenrufen zum Trotz werden Bücher aber verkauft und gelesen – und zwar immer mehr. Enrique Martinez, Generaldirektor der Fnac-darty-gruppe, die kürzlich ein Geschäft in Luxemburg eröffneten, bekräftigt im „Luxemburger Wort“-interview: „Et cette année, la bonne nouvelle, c'est que la vente des livres est en croissance.“Diesen Trend nach oben untermauern ebenfalls vor dem größten Branchentreffen in Frankfurt veröffentlichte Umsatzzahlen aus Deutschland und Frankreich.
Diese positiven Nachrichten wecken Hoffnung und machen Mut; denn mit jeder Publikation, die eingestellt wird, jedem Verlag, der schließt, und jeder Buchhandlung, die den Schlüssel unter die Matte legt, verarmt die Gesellschaft und wird überdies einer Zukunftsperspektive beraubt.
Vernachlässigen wir das Buch, bringen wir nämlich auch die Demokratie in Gefahr. Denn wer liest, entscheidet ganz bewusst, sich Zeit zu nehmen, um einem Unbekannten zuzuhören. Er lernt dabei, sich auf sein Gegenüber einzulassen. Und nicht zuletzt lernt er so, mit Emotionen und Argumenten umzugehen – den eigenen und den der anderen. Indem es uns Geschichten erzählt, egal ob reale oder erfundene, lehrt ein Buch uns, dass auch wir Teil der Geschichte sind. Gerade deshalb ist das Buch auch unser wirkungsvollstes Mittel gegen ideologische Gehirnwäscheanfälligkeit, egozentrische Verrohung, soziale Gleichgültigkeit und zügelloses Wutbürgertum.
„La lecture nous agrandit. La lecture nous enchante“, zitiert Kulturministerin Sam Tanson Goncourt-preisträger Eric Orsenna im Vorwort des Walferdinger Geburtstagsmagazins. Doch vielleicht irrt das Mitglied der illustren Académie Française, genau indem er das Sichvergrößern preist. Vielmehr ist es umgekehrt: Lesen lässt uns unsere Winzigkeit erkennen und zugleich erfahren, dass wir dennoch unersetzbar einen Platz im unüberschaubar großen Gefüge von Raum und Zeit einnehmen, dessen Grenzen selbst auch nur das Buch niederzureißen vermag.
Bis Mitternacht wird heute in Walferdingen gefeiert. Ob Aschenputtel danach eine Kutsche mit sechs Schimmeln vor der Tür vorfindet oder der Traum vom Glück vorbei ist, steht nicht in den Sternen geschrieben, sondern liegt in unser aller Hand. Dafür müssen wir uns bewusst werden, dass lesen und lesen lassen nunmehr eine Frage des Überlebens geworden ist. Und wie schreibt Cormac Mccarthy im Pulitzer preisgekrönten „The Road“treffend: „You have to carry the fire.“„Du musst das Feuer weitertragen“: Das gilt für uns alle, immer und überall.
Ohne Buch geht auch die Demokratie zugrunde.
Kontakt: vesna.andonovic@wort.lu