Chile beerdigt die Verfassung von Pinochet
Kongress macht Weg für Referendum und Verfassunggebende Versammlung frei – Ein Sieg für die Bevölkerung
Die Demonstranten in Chile haben nach vierwöchigen Protesten eines ihrer wichtigsten Ziele erreicht. Das Andenland wird eine neue Verfassung bekommen. Nach zweitägigen, sehr intensiven Beratungen im Kongress in Valparaíso einigten sich die Regierungsparteien und die Opposition in der Nacht auf Freitag darauf, den Weg für eine neue, moderne Verfassung frei zu machen. Im April sollen die Chilenen in einem ersten Schritt per Referendum entscheiden, ob sie ein neues Grundgesetz wollen und in einem zweiten Schritt dann, wie die Verfassunggebende Versammlung zusammengesetzt sein soll.
„Wir sind für viele der Ungerechtigkeiten, Ungleichheiten und Missbräuche verantwortlich, die von der Bevölkerung beklagt werden“, sagte Senatspräsident Jaime Quintana im Anschluss an die Marathonsitzungen um zwei Uhr morgens, als er das „Abkommen für Frieden und eine neue Verfassung“vorstellte. „Es ist eine friedliche und demokratische Lösung der Krise, der einen neuen Sozialvertrag für Chile zum Ziel hat.“Kurz danach schloss sich auch die Regierung an: „Wir haben schwere Tage hinter uns. Alle haben wir gehört und gelernt“, betonte Innenminister Gonzalo Blumel im Präsidentenpalast „La Moneda“.
Das jetzt beschlossene Abkommen ist ein Riesenerfolg für die Bevölkerung, die seit einem Monat friedlich, aber auch gewaltsam gegen die soziale Ungleichheit in dem neoliberalen Land protestiert. Mindestens 20 Menschen kamen bei den Auseinandersetzungen ums Leben.
Entzündet hatte sich die Rebellion am 18. Oktober an einer minimalen Erhöhung der U-bahntickets.
Aber es war die dritte Preisanpassung in diesem Jahr und das in einem Land, in dem die Mehrheit der Menschen im Schnitt 500 Euro verdient und wo nicht nur der öffentliche Nahverkehr so viel kostet wie in Paris. Und so wurde aus dem Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, ein Tsunami, der zeitweise drohte, den konservativen Präsidenten Sebastián Piñera aus dem Amt zu spülen.
Es geht den Chilenen nicht um 30 Pesos mehr für das Ticket, es geht ihnen um 30 Jahre Ungerechtigkeit. Denn auch nach dem Rückkehr zur Demokratie im Jahre 1990 haben es die konservativen und linksliberalen Regierungen
nicht vermocht oder nicht gewollt, die Verfassung grundlegend zu erneuern, die im Jahre 1980 unter dem damaligen Diktator Augusto Pinochet geschrieben wurde. Sie ist aber dafür verantwortlich, dass in dem schmalen Andenstaat nach wie vor eine große soziale Ungleichheit herrscht. Die Löhne und Gehälter sind gering, die Preise für Dienstleistungen extrem hoch, zentrale Pfeiler einer Gesellschaft wie Bildung und Gesundheit sind reguliert und der Staat tritt eigentlich nur als eine Art „Privatisierungshelfer“auf. Der Us-wirtschaftswissenschaftler Milton Friedmann und seine Chicago-boys verwandelten Chile damals in ein neoliberales Paradies, in dem die Privatwirtschaft alle Rechte, aber kaum Pflichten hat, Ressourcen nach Belieben ausbeuten darf und in dem sogar das Wasser privatisiert ist.
Gegen „crony capitalism“Was man in dem Land, das einmal als gesellschaftliches und ökonomisches Vorbild für ganz Lateinamerika galt, derzeit sieht, ist eine Rebellion gegen die Lebensumstände, das politische System, die Verfassung und vor allem das, was die Angelsachsen „crony capitalism“nennen, kapitalistische Vetternwirtschaft. Während 70 Prozent der Chilenen verschuldet sind, sind auf der anderen Seite nach dem Ranking des „World Inequality Database“(WID) nur in Katar die Reichen noch reicher.
80 Prozent der Chilenen sind dafür, dass diese Verfassung abgeschafft wird. Bei der Befragung im April soll die Bevölkerung auch darüber befinden, wie die Verfassunggebende Versammlung zusammengesetzt sein soll. Zur Wahl stehen eine Versammlung, die zur Hälfte aus Parlamentariern und zur anderen Hälfte aus frei gewählten Vertretern besteht.
Die Löhne und Gehälter sind gering, aber die Preise für Dienstleistungen extrem hoch.