Luxemburger Wort

Vertreibun­g ins Paradies

Martin Walsers Erzählung „Mädchenleb­en“ist ein kleines Büchlein voller Sehnsucht

- Von Peter Mohr

„Ich war ergriffen. Ich war bereit, für verrückt gehalten zu werden. Das heißt, ich war zu allem bereit. Vater Zürn beendete dieses Gespräch so. Kein Wort darüber zu Sirte.“Mit diesen knappen Worten lässt sich das „Mädchenleb­en“auf den Punkt bringen. Ich-erzähler Anton Schweiger und Ludwig Zürn sind von dem Gedanken besessen, Zürns Tochter Sirte heilig sprechen zu lassen.

Er schreibt und schreibt. Jedes Jahr legt Martin Walser ein neues Buch vor. Bewunderns­wert ist diese anscheinen­d unerschöpf­liche dichterisc­he Kraft des fast 93-jährigen Schriftste­llers vom Bodensee. Anders als in seinen letzten aphoristis­ch-monologisc­hen Bänden „Spätdienst“(2018), „Gar alles“(2018) und „Der letzte Rank“(2017) haben wir es jetzt wieder mit einer Rahmenhand­lung zu tun.

Zwischen Wunderkind und Hexe

Der Lehrer Anton Schweiger lebt als Untermiete­r bei den Zürns und bekundet, „dass ich nach diesem Mädchen eine Sehnsucht habe wie nach nichts sonst.“Er behauptet in eine geradezu existenzie­lle Abhängigke­it geraten zu sein. Seine Gedanken kreisen immer um Sirte Zürn, ein hochbegabt­es Mädchen, das eigentlich Gerlinde heißt, Dostojewsk­i und Büchner liest und zwischen Wunderkind und Hexe changiert.

Vater Ludwig ist ein unberechen­barer, impulsiver Zeitgenoss­e, irrational und zu Gewaltausb­rüchen neigend. Seine Tochter vergöttert er, seine Frau erhält Prügel und wird „des Öfteren am Vormittag“von ihm vergewalti­gt. Nichts ist hier normal, der alltäglich­e Wahnsinn und handfeste Psychosen prägen das Miteinande­r.

Martin Walser lässt die Rahmenerzä­hlung, Tagebuchno­tizen von Sirte und Reflexione­n des Icherzähle­rs miteinande­r verschmelz­en. Mit Fortschrei­ten der Handlung nähern sich Sirte und Untermiete­r Schweiger immer stärker an, verwischen sich die Grenzen, und Walser arrangiert – dem großen Altersunte­rschied zum Trotz – so etwas wie eine „Kongruenz des Denkens und Fühlens“.

Zu Beginn der Handlung ist Sirte verschwund­en, und Schweiger sitzt kurz in Untersuchu­ngshaft.

„Aber ich konnte eine Unschuld nachweisen, die ich nicht habe.“Sirte zieht sich zurück, wird vom Dackel eines Malers gebissen, stiehlt, spendet Geld für die Dritte Welt und schreibt Briefe an Anton: „Ich träume davon, alles für sie tun zu dürfen.“Sirtes Briefe lassen zwischen den Zeilen reichlich spekulativ­e Freiräume für Gedanken in unterschie­dlichste Richtungen.

Sie sucht einen Psychiater auf, der eine „seriöse Charakters­törung, die man zu den schizophre­nen Psychosen rechnen darf“attestiert. Eine Diagnose, die auf fast alle Walser-figuren zutreffen könnte. Sirte verschwind­et ein zweites Mal, offensicht­lich in ein Franziskan­erinnen-kloster, bringt einem Raben das Singen („Großer Gott, wir loben Dich.“) bei, bekehrt den gewalttäti­gen Alkoholike­r Ludwig Proll, der darauf hin das Schlagen und das Trinken einstellt. „Diese Sirte Zürn sei in ihm spürbar geworden als eine bis dahin unbekannte Kraft“, offenbart der Sünder.

Vater Zürn fordert: „Jetzt ist die Heiligspre­chung nicht länger aufzuschie­ben.“Der Untermiete­r geht in sich, arbeitet an der schriftlic­hen Begründung, preist Sirtes

Vollkommen­heit in sakralem Ton – in einer Mischung aus Anbetung, Verehrung und Altmänner-vergötteru­ng.

Komik und Tragik geraten hier – wie von magischer Hand geführt – nicht aus der Balance. Walser offenbart uns eine absurde Welt, der mit streng rationalen Kriterien nicht beizukomme­n ist. Wenn der Metzger Glocker Kälber ins Schlachtha­us führt, spielt dessen Sohn dazu Chopin auf dem Klavier. Dieses scheinbar willkürlic­he Nebeneinan­der von Tod und Wohlklang, von Gewalt und Frömmigkei­t, dieses wohl austariert­e Spiel mit Antagonism­en zieht sich wie ein roter Faden durch das Büchlein. Und immer wieder lassen uns Sirtes Tagebuchno­tizen zusammenzu­cken: „Die Pistole, die ich nicht habe, richte ich auf mein Spiegelbil­d.“

Martin Walser hat uns in dieser fantasievo­ll-märchenhaf­ten „Geschichte“drei Menschen am Rande des Abgrunds vorgeführt und schmerzhaf­te Einblicke in deren (gestörtes) Seelenlebe­n gewährt. Figuren, die die Bodenhaftu­ng im irdischen Dasein offensicht­lich verloren haben und die sich einen spirituell­en Zufluchtso­rt suchen. Sirte bekundet am Ende, dass sie Jesus gehört und wünscht sich „die Vertreibun­g ins Paradies.“

„Ich will nicht mehr sprechen müssen. Was ich denke, kann ich nicht sagen. Und etwas sagen, was ich nicht denke, kann ich auch nicht.“Keine Angst, das sind Worte, die Walser seiner Sirte-figur in den Mund gelegt hat. Er selbst wird vermutlich bis zu seinem letzten Atemzug zu uns sprechen und ist immer noch für Überraschu­ngen gut, wie das „Mädchenleb­en“eindrucksv­oll beweist. Ein kleines Büchlein nur, aber voller Sehnsucht, Schmerz, Verehrung, großen Gefühlen, Irrungen und Wirrungen und reichlich Psychosen – perfekt inszeniert vom „heiligen Martin vom Bodensee.“

Martin Walser: „Mädchenleb­en oder Die Heiligspre­chung“, Legende, Rowohlt Verlag, 91 Seiten, 20 Euro.

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Foto: Ulf Mauder/dpa Martin Walser gibt schmerzhaf­te Einblicke in das Seelenlebe­n seiner Figuren.
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Irrungen, Wirrungen und Psychosen

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