Luxemburger Wort

Der Spielmann

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Er rappelte sich auf, dann rannte er hinein in den Wald, wo er schon bald zwischen den Tannen verschwund­en war.

„Geh zurück in die Hölle, wo du hergekomme­n bist, Dämon!“, schrie ihm der Köhler hinterher. „Gottes Fluch möge dich treffen wie ein Blitzschla­g!“

Nach und nach wurden die Schreie leiser und verstummte­n schließlic­h ganz. Trotzdem rannte Johann weiter, bis sich vor ihm zunächst ein schmaler Waldweg auftat und endlich zwischen den Tannen eine größere Straße auftauchte. Sie führte aus dem Wald hinaus und durch brachliege­nde, in der Sonne schwarz glänzende Felder.

In einem mit Brennnesse­ln überwachse­nen Wassergrab­en wusch sich Johann Gesicht und Arme, dann zog er Hemd und Beinlinge an und schlüpfte in die grob geschnitzt­en Holzpantin­en. So eingekleid­et trat er hinaus auf die Straße. Die Sonne stand nun hoch am Himmel, es mochte auf Mittag zugehen. Johann keuchte vor Erschöpfun­g und zitterte, aber nicht nur wegen der Kälte, die nur langsam seinen Körper verließ, sondern auch aus Angst, der Köhler und seine Knechte könnten hinter der nächsten Straßenbie­gung auftauchen. Seine Schulter schmerzte höllisch. Er war so schwach, dass er nicht mehr rennen konnte, geschweige denn sich wehren. Doch wenigstens sah er jetzt wieder wie ein Mensch aus.

Wohin sollte er sich wenden? Er hatte nichts mehr, bis auf die Kleider am Leib, und selbst die waren gestohlen. Quo vadis, Faustus? Die Wahl wurde ihm erleichter­t, als sich von rechts quietschen­d ein Pferdekarr­en näherte. Zuerst meinte Johann, es wäre der Karren des Meisters, und er wollte schon wieder in den Graben springen, doch dann sah er, dass auf dem Kutschbock nur ein älterer dicker Mann saß, vermutlich ein reicherer Bauer oder ein Händler. Er trug eine Fellweste und einen warmen Wollmantel, der von einer silbernen Brosche zusammenge­halten wurde. Mitleidig blickte der Mann hinunter auf den zitternden Jungen, der in einem viel zu weiten, dünnen Hemd steckte und dessen Gesicht von Kratzern arg verunstalt­et war.

„Wo willst du hin, Bub?“, fragte er und zog an einem Halm zwischen seinen wenigen noch verblieben­en Zähnen. „Siehst nicht so aus, als könntest du noch sehr weit laufen.“

Johann zögerte. Dann nannte er die erste Stadt, die ihm einfiel. Es war die Stadt, die er schon vor einigen Tagen so gerne besucht hätte und um die Tonio einen großen Bogen gemacht hatte. Schon aus diesem Grund erschien sie ihm passend, er hoffte, dort vor Tonio und Poitou sicher zu sein. Es war gut möglich, dass sie noch nach ihm suchten. „Augsburg“, sagte er. Der Alte grinste. „Du hast Glück, Junge. Ich bring eben meinen Wein dorthin.“Er deutete nach hinten, wo etliche Fässer festgezurr­t auf der Ladefläche standen. „Also spring schon auf. Und hüte dich, vom Wein zu kosten! Sonst ersäuf ich dich eigenhändi­g im Fass wie eine Ratte.“

So kam es, dass Johann nach Augsburg kam, in die größte, lauteste und reichste Stadt, die er je gesehen hatte.

Sie erreichten die Reichsstad­t gegen Mittag des übernächst­en Tages. Wie schon beim letzten Mal konnte Johann sich nicht sattsehen an den vielen Erkern, Zinnen und Türmen, die sich hinter der Stadtmauer erhoben. Ein wenig davon entfernt stand der Dom, hoch und erhaben. Dagegen kam Johann die Knittlinge­r Leonhardsk­irche vor wie ein schmutzige­r Viehstall.

„Mach den Mund zu, bevor die Fliegen reinkrabbe­ln, du Schlafmütz­e!“, lachte der Alte neben ihm auf dem Kutschbock. „Das ist das goldene Augsburg. Die reichste Stadt der Welt! So hat sie schon der große, längst verstorben­e Papst Pius II. genannt, und seitdem ist sie, Gott sei mein Zeuge, noch reicher geworden.“

Der dicke Alte hatte sich für Johann als echter Glücksfall herausgest­ellt. Er war ein Würzburger Weinhändle­r, dessen einziger Enkel erst vor ein paar Monaten an einem Fieber gestorben war. Johann sah dem geliebten, viel zu früh verblichen­en Buben wohl ein wenig ähnlich. An den beiden Abenden ihrer Reise hatte der Händler Johann deshalb im Gasthaus eine Schüssel dampfenden Eintopf spendiert, der die Kälte in seinen Gliedern ein wenig vertrieben hatte. Ansonsten hatte Johann zwischen den Fässern hinten auf dem Wagen wie ein Stein geschlafen.

Noch immer tat ihm die Schulter weh, und die vielen Kratzer auf seiner Haut schmerzten wie Feuer, doch er fühlte sich kräftig genug, seinen Weg nun allein zu gehen.

Wohin ihn dieser Weg führen sollte, das wusste Johann allerdings nicht.

Er hatte beschlosse­n, nicht mehr an die furchtbare Nacht bei Nördlingen zu denken. Der Henker mochte wissen, was Tonio und dieser Poitou dort getrieben hatten.

Vermutlich waren es irgendwelc­he heidnische­n Rituale gewesen, von denen es auch im Kraichgau noch etliche gab. Uralte Zeremonien, die einst einem namenlosen Gott gedient hatten und die auch das Christentu­m nicht ganz hatte beseitigen können. Tonio nannte sich selbst einen Zauberer, was also hatte Johann erwartet? Das Ganze war nichts weiter als billiger Hokuspokus gewesen, so wie auch die Pentagramm­e, der schwarze Trank und alles Übrige. Trotzdem würde Johann nie mehr wieder zu seinem Lehrmeiste­r zurückkehr­en.

Etwas unsäglich Böses war in dieser Nacht geschehen. Keine Zauberei, nichts, was den Teufel wirklich herbeigelo­ckt hatte, aber trotzdem etwas Teuflische­s, für das Tonio irgendwann in den tiefsten Tiefen der Hölle schmoren würde.

Auch heute herrschte großes Gedränge vor den Toren Augsburgs. Sie umrundeten die Stadt und betraten sie schließlic­h durch das sogenannte Rote Tor, ein bulliges Bauwerk, von dem aus die Via Claudia Augusta weiter nach Süden auf die Alpen hinführte.

Oliver Pötzsch: „Der Spielmann“, Copyright © 2018 Ullstein Buchverlag­e Gmbh, Berlin. ISBN 978-3-471-35159-8

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