Im Wartesaal des Todes
Das einstige Wehrmachtsgefängnis in Torgau zählt bis heute zu den dunkelsten Orten der Luxemburger Geschichte
Torgau (D). Anfang 1945 schenkt der Zufall der Geschichte Jean Muller aus Fouhren ein zweites Mal das Leben. Das erste hatte ihm das im sächsischen Torgau tagende Gericht der Wehrmachtkommandantur Leipzig am 7. Dezember 1944 im Alter von nur 21 Jahren offiziell genommen.
Wegen „Zersetzung der Wehrkraft“durch absichtliche Herbeiführung der Gelbsucht war er dort – in Abwandlung einer ersten Zuchthausstrafe – zum Tode verurteilt worden. Offenbar aus Abschreckungsgründen, nachdem sich zuvor die Fälle gehäuft hatten, „in denen deutsche Soldaten aus Luxemburg sich durch Vortäuschung der Gelbsucht vor der Erfüllung ihrer Wehrpflicht zu drücken suchten“, wie es im nationalsozialistischen Ton der Urteilsbegründung heißt.
Die Verzweiflungstat eines jungen Mannes, der auf Heimaturlaub nach seiner militärischen Ausbildung in der Tat lieber Krankheit und Lazarett auf sich genommen hatte als in der verhassten Uniform des Besatzers an der Ostfront zu sterben. Die Aufdeckung seines Täuschungsversuchs führte ihn dafür an einen anderen Ort des Grauens: das berüchtigte Wehrmachtsgefängnis Fort Zinna in Torgau.
Zehntausende Schicksale zwischen Gefängnismauern
Seit Ende 1944 wartete er hier in einer Todeszelle tagtäglich auf seine Hinrichtung, die letztlich nur deshalb nicht erfolgen sollte, da die Bestätigung seines Urteils in den Wirren der letzten Kriegsmonate in Berlin im Sand verlief. Wochen und Monate der Angst, die man sich dennoch kaum auszumalen wagt, und die Muller mit zahllosen anderen Gefangenen teilte.
In den Torgauer Wehrmachtsgefängnissen Fort Zinna und Brückenkopf wurden bis 1945 mehr als 60 000 Menschen inhaftiert, darunter neben Widerständlern auch viele Soldaten, die zwangsweise in die Wehrmacht eingezogen worden waren. Laut Angaben des Dokumentations- und Informationszentrums der heutigen Gedenkstätte Torgau (DIZ) dürften unter den Insassen wohl knapp 200 Luxemburger gewesen sein.
Auch die Zahl der zum Tode verurteilten und erschossenen Luxemburger Zwangsrekrutierten in Torgau ist bis dato nicht eindeutig geklärt: Bisher sind 29 von ihnen namentlich bekannt. Weitere 19 wurden – wie Jean Muller – militärgerichtlich verurteilt, überlebten aber, weil das nahende Kriegsende die Vollstreckung der Todesurteile verhinderte.
„In der Zeit vom 28. November bis zum 15. Dezember [1944] regnete es Todesurteile“, erinnerte sich 1992 der Torgau-überlebende Pierre Fah, „selbst für solche, die vorher nur drei Jahre Gefängnis hatten. Die Strafen waren nach dem Attentat auf Hitler verschärft worden.“Um die Jahreswende 1944/45 fand denn auch innerhalb weniger Tage die
Hinrichtung mehrerer Luxemburger Häftlinge statt, die in der nahen Süptitzer Kiesgrube beziehungsweise im Wallgraben von Fort Zinna erschossen wurden.
Jene, die das Schicksal vom Tod verschonte, blieben unterdessen den menschenunwürdigen Bedingungen des von wachsender Überbelegung, Erniedrigung und militärischem Drill geprägten Haftalltags unterworfen.
„Sämtliche Befehle waren im Laufschritt auszuführen, mehrstündiges Exerzieren wurde den Gefangenen täglich abverlangt“, heißt es etwa im Begleitheft zur ständigen Diz-ausstellung „Spuren des Unrechts“, die jüngst auch von einer Reisedelegation der Fédération des Enrôlés de Force (FEDEF) besucht wurde.
Am Mahnmal vor dem Fort Zinna gedachte man im Anschluss denn auch mit Blumen der Opfer der Wehrmachtsjustiz in Torgau. Eine Gedenkstätte mit europäischem Charakter, wie Diz-leiter Wolfgang Oleschinski betonte, die damit auch ein Luxemburger Erinnerungsort sei.