„Säuberungen“ohne Ende
Auch dreieinhalb Jahre nach dem Putschversuch in der Türkei gehen die Festnahmen weiter
Fast ein Tag wie jeder andere in der Türkei: Gestern nahm die Polizei mindestens 75 Menschen aus politischen Gründen fest. Nach fast 90 weiteren Verdächtigen wurde landesweit gefahndet. Den Betroffenen werden Verbindungen zur Bewegung des Predigers Fethullah Gülen vorgeworfen. Staatschef Recep Tayyip Erdogan sieht in seinem früheren Verbündeten Gülen, der seit 1999 im Exil in den USA lebt, den Drahtzieher des Putschversuchs vom Juli 2016. Auch dreieinhalb Jahre nach dem versuchten Staatsstreich gehen die „Säuberungen“in der Türkei unvermindert weiter, Razzien und Festnahmen sind an der Tagesordnung.
Erst am vergangenen Freitag hatten Staatsanwälte wegen angeblicher Gülen-verbindungen Haftbefehle gegen 138 Verdächtige erlassen, darunter 31 Soldaten und 15 frühere Militärkadetten. Die Polizei veranstaltete auf der Suche nach den Menschen Razzien in 23 türkischen Provinzen. In Ankara wurden im Rahmen der Fahndung 53 ehemalige Angehörige des Militärs festgenommen.
Gesellschaftliche Stigmatisierung Nach dem Putschversuch wurden bereits rund 18 000 Mitglieder der Streitkräfte entlassen. Außerdem verloren etwa 130 000 Staatsbedienstete ihre Jobs, darunter Lehrer, Richter, Ärzte und Professoren. Die Entlassenen verlieren ihre Rentenansprüche, ihre Krankenversicherung
und sind gesellschaftlich stigmatisiert, weil ihre Namen und Adressen im Internet veröffentlicht werden.
Nach Angaben des türkischen Innenministers Süleyman Soylu von der vergangenen Woche hat die Justiz bisher gegen 559 064 Menschen wegen angeblicher Gülen-verbindungen ermittelt. 261 700 Verdächtige wurden festgenommen. 26 952 Personen sitzen in Straf- oder Untersuchungshaft, weil sie Kontakt zur Gülenorganisation gehabt haben sollen. Nach offiziellen Angaben wurden im Zusammenhang mit dem Putschversuch bisher 270 Strafverfahren abgeschlossen. 2 327 Angeklagte wurden zu lebenslanger Haft verurteilt. Weitere 1 511 erhielten langjährige Gefängnisstrafen.
Polizei und Justiz gehen nicht nur mit Razzien und Festnahmen gegen mutmaßliche Gülen-anhänger vor. Die Regierung verschärft auch ihre Gangart gegenüber Leuten, die nicht mit der türkischen Invasion in Nordsyrien einverstanden sind.
Kritik an Syrien-krieg unerwünscht Hunderte Menschen sind in den vergangenen Wochen bereits festgenommen worden, weil sie in sozialen Medien Kritik an der Militäroperation äußerten. Am vergangenen Freitag gab es deswegen im südtürkischen Adana 46 Festnahmen. Den Beschuldigten werden „Terrorpropaganda“, „Herabwürdigung 2des Staates“und „Volksverhetzung“vorgeworfen.