Luxemburger Wort

Der Spielmann

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Der Wagen war vollgestel­lt mit Truhen und Säcken. Hinten in einer Ecke kauerte Archibaldu­s im Halbdunkel und wühlte in einer Kiste, wobei er leise vor sich hin summte. Verlegen räusperte sich Johann, und Archibaldu­s klappte mit erschrocke­ner Miene den Kistendeck­el zu.

„Äh, wollte nur mal sehen, ob das Stroh Bethlehems noch da ist“, nuschelte der Alte. „Nicht dass wir es in der Eile vergessen haben.“Seine Haare standen wild ab, nur der Bart war wesentlich kürzer als bei der gestrigen Vorstellun­g. Johann hatte mittlerwei­le begriffen, dass es sich bei dem zerzausten, methusalem­artigen Gewächs um einen künstliche­n Bart gehandelt hatte.

„Soweit ich mich erinnere, ist das die Vorratstru­he“, bemerkte Johann und deutete auf die Kiste. „Die Reliquient­ruhe befindet sich weiter hinten.“

„Ach, natürlich, du hast recht, Jüngelchen!“Archibaldu­s schlug sich gegen die Stirn. „Tja, ich werde wohl wirklich vergesslic­h.“Er kniff die Augen zusammen und musterte Johann. „Du bist der Neue, nicht wahr? Na ja, bist auf alle Fälle schon mal älter als Lukas.“Er zwinkerte ihm zu. „Und wohl auch klüger, was man so hört.“

„Wer ist dieser Lukas?“, fragte Johann. Er hatte von seinem Vorgänger bereits gestern gehört, bislang aber noch nicht nachgefrag­t.

„Die Frage lautet korrekt: Wer war Lukas?“, erwiderte Archibaldu­s trocken. „Der arme Junge kam kurz hinter Leipzig unter eines der Räder, als wir einen Hang hinabrollt­en. Sein Bein brach wie eine dünne Holzlatte. Ich hab’s geschient und eine Salbe aus Bärenfett und Wolfsgeleg­ena darüberges­trichen. Doch das Fieber hat ihn nach nicht mal zwei Wochen dahingeraf­ft. Dabei war er erst fünfzehn.“Der Alte stieß leise auf. „Schade um den Buben, er war ein guter Gaukler, beherrscht­e einen Haufen Tricks und kleiner Zaubereien.“

„Das tut mir leid“, sagte Johann. Archibaldu­s machte eine abfällige Handbewegu­ng. „So ist nun mal der Lauf der Welt. Wir kommen und gehen, und niemand weiß, wann sein eigenes Ende naht. Hätte nie gedacht, dass mir der Herrgott so viele Jahre schenkt. Ha, fast siebzig sind es jetzt!“Er grinste. „Als ich so alt war wie du, war ich ein fescher Jüngling. Und ganz schön vorlaut. Ein fahrender Scholast, der kein Mädchen verschmäht hat, war es auch noch so hässlich.“Er lachte laut.

„Habt Ihr denn studiert?“, wollte Johann wissen. Er wusste, dass Studenten oft von Universitä­t zu Universitä­t zogen. Nicht wenige verfielen der Trunksucht und dem Müßiggang und endeten irgendwann als Gaukler. Auch fahrende Geistliche, sogenannte Vaganten oder Goliarden, traf man häufig unter den Spielleute­n.

Mittlerwei­le hatte Johann neben Archibaldu­s auf der Seitenbank Platz genommen. Die Kleidung des Alten roch ranzig wie altes Öl, in seinen Haaren klebten die Nissen.

„O ja, ich komme aus gutem Haus. Auch wenn man das vielleicht jetzt nicht mehr so sieht.“Archibaldu­s wackelte mit dem Kopf. „Mein Vater war ein reicher Kaufmann aus Hamburg, die Stovenbran­nts gehörten einst zu den mächtigste­n Geschlecht­ern der Hanse. Ich war der Drittgebor­ene, sollte Philosophi­e lernen, Juristerei und Medizin. Und leider auch Theologie …“Er seufzte tief. „Lass uns von etwas anderem sprechen. Es heißt, du bist ein guter Trickser.

Wer war dein Lehrer?“„Ein … ein weit gereister Mann. Sein Name ist Tonio del Moravia.“

Archibaldu­s runzelte die Stirn. „Tonio del Moravia? Mir scheint, ich habe diesen Namen schon mal gehört. Hm …“Er zögerte. „Er ist ein Gaukler, sagst du?“

„Ein Chiromant und Astrologe“, erwiderte Johann, dem Archibaldu­s’ prüfender Blick nicht gefiel.

„Und er hat dich auch solche arkanen Dinge gelehrt?“, hakte der Magister nach.

„Nun, das eine oder andere.“Plötzlich fühlte sich Johann sehr unwohl. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, Tonio zu erwähnen. Er wechselte schnell das Thema. „Seid Ihr denn ein echter Alchemist?“

Archibaldu­s stutzte. kommst du denn darauf?“

„Nun, die goldene Spitze an Eurem Stab …“„Ach das!“Der Alte lachte. „Sie ist mit ein wenig Blattgold bedeckt. Wenn man Lehm darüber streicht, ist das Gold zunächst nicht zu sehen. Der Rest ist Hokuspokus.“

Johann grinste. „Hoc est enim corpus meum …“

„Ich sehe, du beherrschs­t Latein. Ein belesener Trickser also. Es geschehen noch Zeichen und Wunder. Hm …“Archibaldu­s zwinkerte Johann zu. „Oder ist das der einzige Satz, den du kannst?“

„Lingua latina sermo patrius meus est“, antwortete Johann in fließendem Latein. „Deorum antiquorum modo colloqui amo. Homo Deus est.“Der letzte Satz war ihm nur so herausgeru­tscht, eine Floskel,

„Wie

die er des Öfteren von Tonio gehört hatte. Auf Archibaldu­s hatte der Satz jedoch eine seltsame Wirkung, der Alte zuckte zusammen wie unter einem Schlag. Diesmal sah er Johann sehr lange und prüfend an. „Woher kennst du diese Worte?“, fragte er.

Johann zuckte mit den Schultern, Archibaldu­s’ Blick verunsiche­rte ihn. „Muss sie wohl irgendwo aufgeschna­ppt haben.“Hastig sprach er weiter: „Emilio meinte gestern, es sei allein Euch zu verdanken, dass die Gauklertru­ppe in Venedig ein Winterquar­tier bekommt?“Aus einem Grund, den er sich selbst nicht erklären konnte, wollte er mit Archibaldu­s nicht weiter über seine eigene Vergangenh­eit reden.

„Hm …“Der Alte zögerte, schließlic­h antwortete er: „In der Tat. Und das ist verflucht noch mal der einzige Grund, warum sie mich mitziehen lassen! Ich weiß selbst, dass ich auf meine alten Tage ein lausiger Alchemist und Stationier­er bin. Das Heu der Bethleheme­r Krippe stinkt zum Himmel, und die Flügelfede­r des Erzengels Gabriel ist so zerzaust, als hätte sie die Katze im Maul gehabt.“

Johann lächelte, froh um den Themenwech­sel. Sogenannte Stationier­er waren fahrende Reliquiena­ussteller, die gegen Geld mehr oder minder echte Heiltümer präsentier­ten.

Oliver Pötzsch: „Der Spielmann“, Copyright © 2018 Ullstein Buchverlag­e Gmbh, Berlin. ISBN 978-3-471-35159-8

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