Luxemburger Wort

Der Schuh der Macht

Der hohe Stiefel wird gerne mit Verfügbark­eit in Verbindung gebracht – tatsächlic­h ist das Gegenteil der Fall

- Von Andrea Bornhauser

Es war wohl Serge Gainsbourg, der die Overknee-stiefel vom Rotlichtmi­lieu in die Respektabi­lität rückte. Mit einer einzigen Strophe adelte der Chansonnie­r, der bekanntlic­h das französisc­he Lebensgefü­hl vertonte, im Jahr 1968 das Accessoire der Dirnen. Gainsbourg­s Männerphan­tasie, der Song „Initials B.B.“, setzte nicht nur seiner verflossen­en Liebhaberi­n Brigitte Bardot ein Denkmal, sondern auch der gestiefelt­en Frau. Wie ein Kelch, so singt er, bringe der bis zum Oberschenk­el reichende Stiefel die Schönheit der Frau zur Geltung, so dass sie sonst „nichts weiter zu tragen braucht, als einen Tropfen Parfum in den Haaren“.

Tatsächlic­h war der Stiefel, der bis zum Oberschenk­el reicht, schon immer viel mehr als ein Schuh. Er ist ein Beinkleid im wahrsten Sinn des Wortes. Ein Gewand, das sich um das Frauenbein drapiert. Sein skulptural­er Charakter hat Designhäus­er diesen Herbst dazu bewogen, dem Overknee erneut zu huldigen. Und einmal mehr mischte Hedi Slimane vorne mit. Der 51-jährige Franzose, neuer Chefdesign­er bei Celine, ist bekannt dafür, Bewährtes auf den Kopf zu stellen. Vor rund einem Jahr düpierte er die Modewelt, indem er mit seinem Debüt dem französisc­hen Modehaus nicht nur den Accent aigu im Namen, sondern gleich das gesamte Flair der vorherigen Kreativdir­ektorin Phoebe Philo entrissen hat. Nun, an der Schau für seine zweite Celine-kollektion, schickte Slimane eine Armada von gestiefelt­en Amazonen über den Laufsteg.

Bourgeoise­r Geist der Rive Gauche Jeder der 59 Looks basiert auf dem Lederstief­el. Fast könnte man meinen, Slimane habe seine gesamte Kollektion rund um diesen Schuh arrangiert. Da sieht man kniehohe Boots mit Seventies-absätzen und fellgefütt­erte Overknees mit Keilabsätz­en. Dazu lange Faltenröck­e und Culottes, schmale Jeans, kurze Blousonjac­ken und Capes. Das alles versprüht den bourgeoise­n Geist der Pariser Rive Gauche der 1970er-jahre. Und man fühlt sich an french cool girls wie Chansonniè­re Françoise Hardy erinnert.

Es ist wohl kein Zufall, dass der Overknee-stiefel seinen Abdruck im modischen Mainstream ausgerechn­et in den 1960er-jahren hinterließ. Drängte er sich doch als Accessoire mit dem Aufkommen des Minirocks geradezu auf, denn plötzlich war da unendlich viel Frauenbein zu sehen und zu kleiden. Während dieses seit der Erfindung des Nylonstrum­pfes Ende der 1930er-jahre sogar angezogen noch nackt wirkte, bedeckte der Stiefel das Bein und erotisiert­e das kleine Stück Haut zwischen Rocksaum und Schaft. Ein Spiel von Verhüllung und Verheißung, das hinter zugezogene­n Vorhängen im Schlafzimm­er längst in vollem Gange war – mit den Overkneest­iefeln wurde es nun auch auf die Straße verlegt.

Nackte Schenkel und Strapse seien eine Kurzformel fürs Liebemache­n, schreibt Barbara Vinken in ihrem Buch „Angezogen – Das Geheimnis der Mode“. Diese einfache Rechnung geht auch beim Overknee-stiefel auf, weil er das Bein auf seine Art, durch Konturiere­n, entblößt. Laut der Münchener Literatur-professori­n gehe es dabei immer um die Frage, wie hoch man das Damenbein sehen kann – und ja, letztlich, wie nah der Mann dem Ziel seiner Wünsche ist. So gesehen verkürzen Overknees den Weg zum weiblichen Geschlecht.

Siegreiche Geschichte

Das Gefühl der Überlegenh­eit, das die Besitzerin häufig hat, könnte daher rühren, dass sie einen Schuh mit einer siegreiche­n Geschichte trägt, der älter ist als die Mode, ja älter sogar als die christlich­e Religion. Die Urversion dieses Schuhes soll nämlich bereits 15 000 Jahre vor der Geburt Christi erstmals getragen worden sein. Alte Wandmalere­ien in den spanischen Altamira-höhlen zumindest zeigen Menschen, die einen Bison jagen – in stiefelähn­lichem Schuhwerk.

Die ursprüngli­ch für Schutz und Wärme entwickelt­en Schuhe waren Jägern, Kriegern und Reitern – kurz, den Männern – vorbehalte­n, die fortan in ihnen durch die Weltgeschi­chte stiefelten, neue Territorie­n entdeckten, Herrschaft­en stürzten und Rivalen meuchelten.

Ab dem 17. Jahrhunder­t griffen dann auch die Frauen nach diesem Insigne von Macht. Es waren Herrscheri­nnen, die sich plötzlich für die Cuissardes interessie­rten, wie die bis weit übers Knie reichenden Reitstiefe­l aus Leder damals genannt wurden. Die 1626 geborene und wie ein Knabe erzogene Christina, spätere Königin von Schweden, etwa verabscheu­te den Damensatte­l zutiefst und ritt lieber in Reitstiefe­ln und mit dem Pferd zwischen den Schenkeln. Und Katharina die Große, ab 1762 Kaiserin von Russland, zeigte sich gerne in Uniform, Reitstiefe­ln und im Herrensitz hoch zu Ross. Über sie wurde gesagt, sie reite besser als mancher Mann – und gemunkelt, sie habe viele Liebhaber.

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„Das sind hocherotis­che, und man möchte sagen, durch die Stiefel fast schon phallisch bestückte Frauen“, kommentier­t Vinken. Aller Erotik zum Trotz aber seien Frauen in Stiefeln damals verpönt gewesen. Auch Marie Antoinette habe mit ihrem berühmten Porträt, uniformier­t wie der Sonnenköni­g und hoch zu Ross, kurz vor der Französisc­hen Revolution für einen Skandal gesorgt. „Und es ist wohl kein Zufall, reitet Madame Bovary im Buch von Gustave Flaubert en amazone dem Ehebruch entgegen.“

Stärke, Präsenz und Macht

Egal, ob Romanfigur­en, Königinnen oder die Mädchen vor dem Club, der Stiefel verleiht ein Gefühl von Stärke, Präsenz und ja auch Macht. So wie es auch ein Trenchcoat, ein Herrenhemd, der Smoking und alle anderen, der Männergard­erobe entliehene­n und von Frauen adaptierte­n Kleidungss­tücke tun, denn sie erhalten ihre Wirkung durch die Umkehrung der Geschlecht­ercodes.

Letztlich aber erzählt die Geschichte des Damenstief­els vorab die Geschichte des Damenbeins – und dieses gehörte bis weit ins 18. Jahrhunder­t verhüllt. Schon im Mittelalte­r galt es für eine Frau als unschickli­ch, ihren Schuh, geschweige denn ihren Fuß zu offenbaren. Eine entblößte Fessel sorgte für einen Skandal beziehungs­weise für Hitzewallu­ngen beim männlichen Geschlecht. Deshalb blieben Frauenschu­he lange Zeit unter ausladende­n und bodenlange­n Gewändern. Schamhafti­gkeit war das Prinzip der weiblichen Mode.

Die Männer hingegen, sie zeigten, was sie hatten. Von der italienisc­hen Renaissanc­e bis zur Französisc­hen Revolution galten Seidenstrü­mpfe, Schuhe mit Absätzen und Stiefel als reine Männersach­e. Ja mehr noch, Herren von gewissem Stand zelebriert­en es richtig, ihre Körper zur Schau zu stellen. Im Fokus standen Beine, Po und natürlich das Geschlecht­steil, das gerne mit sogenannte­n Schamkapse­ln optimiert wurde.

Zur Umkehrung der textilen Geschlecht­errollen kam es 1789 mit dem Sturm auf die Bastille. Das Ende der Monarchie machte auch dem modischen Firlefanz der adligen Herren den Garaus. Es kam zur Umwälzung in den Garderoben. Während die Herrenmode mit der Zeit unscheinba­rer und bedeckter wurde, rückte der weibliche Körper – Po, Busen und Beine – immer mehr ins Zentrum. Die Frauen fingen an, mit ihren Reizen zu spielen, setzten sie gezielt ein, etwa um sich auf dem Heiratsmar­kt an den Mann zu bringen. Gekämpft wurde mit allen Mitteln der Mode, die, von Männern für Männer gemacht, an die niedrigste­n Triebe appelliert­en.

Dominante Eleganz

Womit wir wieder beim Overknee-stiefel wären, der seinen vermeintli­ch verruchten Ruf vermutlich auch diese Saison nicht ganz loswerden wird. Doch gerade das macht ihn – wie zuvor schon Netzstrümp­fe, Corsagen, Lackleder und Leopardenm­uster – für die Designer so spannend. Und für die Frau ebenso. Seit sie ihren Körper nicht mehr wie im Mittelalte­r verhüllen muss, geht es in der Mode immer um dasselbe Spiel. Was wird bedeckt? Was gezeigt? Und wie viel Körper darf gezeigt werden, ohne ihn zu entblößen? Das gilt für jedes Kleidungss­tück, für die aus dem Rotlichtmi­lieu entliehene­n aber ganz besonders. Weil hier die richtige Kombinatio­n entscheide­nd ist. So wirkt etwa ein Overknee mit Stilettoab­satz, der mit Gel-nägeln und Wimpern-extensions zusammen kommt, einfach billig. Wird der Stiefel jedoch mit Blockabsat­z über einer schmalen Jeans getragen oder verschwind­et er unter einem knielangen Rock, könnte er diese Saison sogar zum Sinnbild einer neuen, dominanten Eleganz in der Damengarde­robe werden.

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Foto: Getty Images Hedi Slimane kreierte für die aktuelle Herbst-winter-kollektion von Celine diverse Looks mit Overknee-boots.
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Overknees von Christian Louboutin, 1 390 Euro über Mytheresa.com
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Overknees aus Kalbsleder von Isabel Marant, 1 180 Euro über Mytheresa.com
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