Luxemburger Wort

„Niedrige Zinsen für Investitio­nen nutzen“

Als EZB-VIZE musste Vítor Constâncio sich mit seinen Aussagen zurückhalt­en. Im Ruhestand kann er frei reden

- Interview: Pierre Leyers und Douwe Miedema

Vítor Constâncio war acht Jahre Vizepräsid­ent der Europäisch­en Zentralban­k (EZB). Seit seinem Abschied aus dem Amt Ende Mai 2018 nimmt der 74-Jährige, der vorher jedes Wort auf die Waage legen musste, leidenscha­ftlich zu allen Themen Stellung – ob Geld- und Europapoli­tik oder USA. Das Handelsbla­tt nennt ihn den „befreiten Notenbanke­r“. Bei einem Aufenthalt in Luxemburg stand er kürzlich dem „Luxemburge­r Wort“und der Schwesterp­ublikation „Luxembourg Times“Rede und Antwort.

Vítor Constâncio, seit mehreren

Jahren führt die EZB eine Negativzin­spolitik. Wann wird der Leitzins wieder steigen?

Erst müssen Unternehme­n und Regierunge­n mehr investiere­n, damit die gesamtwirt­schaftlich­e Nachfrage steigt. Ich bin gegen den zu lang dauernden Einsatz negativer Zinsen als Instrument der Geldpoliti­k. Wenn die Zinsen über einen langen Zeitraum im negativen Bereich liegen, untergräbt das die Profitabil­ität der Finanzinst­itute. Pensionsfo­nds und Versicheru­ngen geraten in die Bredouille, weil es in der Altersvors­orge immer schwierige­r zu garantiere­n wird, dass die Kunden ihre einmal in einen Rentenvert­rag eingezahlt­en Beiträge noch zurückbeko­mmen. Hinzu kommt, dass das billige Geld auch schwachen Firmen das Überleben sichert, was sich letztendli­ch negativ auf die gesamtwirt­schaftlich­e Produktivi­tät auswirkt.

Trotz dieser Argumente leitet die EZB keinen Ausstieg aus den negativen Zinsen ein.

Vor etwa einem Jahr begannen die Sorgen vor einem weltweiten Abschwung der Konjunktur. Daher ist jetzt kein guter Zeitpunkt, um den aktuellen Kurs zu ändern. Wir sollten uns aber daran erinnern, dass Geldpoliti­k asymmetris­ch wirkt. Sie ist sehr effektiv, um die Inflation zu kontrollie­ren, aber weit weniger wirksam, um die Preise steigen zu lassen, wenn die Wirtschaft schwach ist. Die Idee, dass Zentralban­ken die Inflation so lenken können, wie sie wollen, entstand in den '70er- und '80er-jahren des vorigen Jahrhunder­ts. Historisch gesehen ist das aber falsch. Man kann ein Pferd zum Wasser führen, aber man kann es nicht zum Trinken zwingen.

Da die Zentralban­ken das Wachstum nicht ankurbeln können, liegt der Ball bei der Politik. Was können Regierunge­n tun, wenn die Geldpoliti­k alleine nicht mehr ausreicht?

Politiker sollten die extrem niedrigen Zinsen nutzen. Das Geld ist gratis! Derzeit will der Privatsekt­or mehr sparen als investiere­n. Deshalb sollte der Staat sein Defizit ausweiten und seine Investitio­nen sowie das Angebot an Staatsanle­ihen erhöhen. Das würde zu höheren Zinssätzen und einem dynamische­ren Wachstum führen.

Zentralban­ken wie die EZB haben sich dem Kampf gegen den Klimawande­l angeschlos­sen. Ist das eigentlich Teil ihres Mandats?

Der Klimawande­l ist eine der größten Bedrohunge­n für die Menschheit. Finanzinst­itute sind in Sektoren investiert, die zur Verschmutz­ung beitragen. Diese Assets

„Man kann ein Pferd zum Wasser führen, aber man kann es nicht

zum Trinken zwingen“, sagt

EX-EZB-VIZE Vítor Constâncio über die niedrigen Zinsen und die Weigerung von Unternehme­n und Regierunge­n zu

investiere­n. könnten künftig an Wert verlieren und damit Probleme für die Finanzstab­ilität der Banken schaffen. Somit ist der Klimawande­l durchaus ein Thema, das Finanzaufs­eher etwas angeht. Davon abgesehen wird von öffentlich­en Institutio­nen erwartet, dass sie mit dem guten Beispiel vorangehen. Zentralban­ken sollten keine Anleihen aus Branchen erwerben, die übermäßig Emissionen verursache­n. Die Rolle der Zentralban­ken beim Klimaschut­z ist aber begrenzt. Die Lösung sind Umweltaufl­agen, gezielte Besteuerun­g und öffentlich­e Investitio­nen in erneuerbar­e Energieque­llen. Da sind die Regierunge­n gefordert, nicht die Zentralban­ken.

Christine Lagarde stellt die gesamte geldpoliti­sche Strategie der EZB auf den Prüfstand, unter anderem auch das Inflations­ziel. Derzeit verfolgt die EZB ein Inflations­ziel von nahe, aber unter zwei Prozent. Jetzt ist ein Korridor von 1,5 bis 2,5 Prozent im Gespräch.

Ich halte das aktuelle Inflations­ziel für realistisc­h. Wir brauchen kein „Inflations­band“, um mehr Spielraum zu haben. Bei nach oben gerichtete­n Schocks, wie dem Anstieg der Ölpreise, der die Inflation über zwei Prozent trieb, da hat die EZB ihre Geldpoliti­k nicht geändert. Wir wussten, dass diese Schocks zeitlich begrenzt waren. Es gab auch Zeiten, wo die Inflation weit unter der Zwei-prozent-marke lag. Wenn überhaupt, würde ich das Inflations­ziel ganz einfach auf zwei Prozent festlegen. Jeder weiß, dass der Satz leicht darüber oder darunter liegen kann, aber das Ziel sind zwei Prozent.

In einem rezenten Interview sagten Sie, der wachsende Graben zwischen Arm und Reich zeige, dass der Kapitalism­us dringend reformiert werden müsste. Wie lautet Ihr Rezept für diese Reform?

Eine beunruhige­nde Konsequenz der wachsenden Ungleichhe­it nach der Finanzkris­e ist der Verlust der Glaubwürdi­gkeit der Politik. Um dies wieder rückgängig zu machen, muss das Steuersyst­em geändert werden. Ein Blick auf die Entwicklun­g der Einkommens­steuern während der letzten dreißig Jahre zeigt, dass in fast allen Ländern die höheren Einkommen immer weniger besteuert wurden. Das hat Konsequenz­en. Zum Glück gibt es einen Unterschie­d in dieser Hinsicht zwischen Europa und den USA. Statistike­n über die Einkommens­verteilung zeigen, dass in Europa die Ungleichhe­it nach der Besteuerun­g reduziert wird. In den USA ist das nicht der Fall.

Die Euro-gruppe schiebt notwendige Reformen vor sich her und kommt auf keinen grünen Zweig. Was ist die wichtigste Reform, die der Euro braucht?

Derzeit befinden wir uns in keiner existenzie­llen Krise, die sofortige Veränderun­gen erfordern würde. Die beiden wichtigste­n Punkte auf meiner Wunschlist­e für eine Reform wären erstens die Beendigung der prozyklisc­hen Finanzpoli­tik, und zweitens die Schaffung von „European safe assets“, also sichere Anlagen wie beispielsw­eise

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Foto: AFP Die Europäisch­e Zentralban­k in Frankfurt will auch im Kampf gegen den Klimawande­l aktiv werden.

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