Der Spielmann
Archibaldus stöhnte. „Ein paar Brocken. Aber davor brauche ich einen neuen Krug Wein. Sei so nett und hol mir einen, ja?“
Anfang Dezember wurde es ruhiger im Kontor. Der Weg über die Alpen war von Schnee und Eis versperrt, und es kamen keine weiteren deutschen Händler mehr. Dafür hatte Rieverschmitt jetzt immer öfter venezianische Gäste, die sich für die deutschen Waren, für Leinen und Salz, Bienenwachs, Silber und Bernstein interessierten. Meist saßen sie noch später am Abend bei Wein, Stockfisch und Braten zusammen, wobei die Venezianer dreizinkige Gabeln benutzten, ein Besteck, das nördlich der Alpen noch immer als ein Werkzeug des Teufels galt und deshalb verpönt war. Johann fand es ziemlich praktisch, auch weil man sich die Hände nicht schmutzig machte. An einem besonders kalten Nachmittag, an dem in Eisenkörben Feuer im Kontor brannten, nahm Rieverschmitt Johann beiseite.
„Wir erwarten heute Abend hohen Besuch“, raunte er. „Einige Herrschaften aus der Signoria haben sich angekündigt. Ich möchte, dass ihr euer Bestes gebt. Es ist wichtig, dass sich die Ratsmitglieder gut unterhalten fühlen.“
„Die Signoria?“Johann runzelte die Stirn. „Wer soll das sein?“
Rieverschmitt lachte. „Genauso könntest du fragen, wer der deutsche König ist! Die Signoria ist der Kleine Rat, das mächtigste Gremium Venedigs, es stellt den Dogen und bestimmt die Politik. Die Ratsmitglieder sind mächtiger als so manche Herzöge und Fürsten. Und sie sind schlaue Händler.“Er grinste. „Es geht für das Kontor also um viel Geld.“
Johann nickte. „Ihr könnt Euch auf uns verlassen. Johann Faustus’ weithin bekannte fabulöse Gauklertruppe wird den hohen Herrschaften ein prächtiges Schauspiel präsentieren.“
Kurz nach Einbruch der Dämmerung, als die Venezianer mit ihren Gondeln kamen, jonglierten Emilio und Johann schon am Kai mit brennenden Fackeln. Im Licht der Feuerkörbe tanzte Salome ihren Schleiertanz und ließ sich von Mustafa hoch in die Lüfte werfen. Gemeinsam balancierten sie auf fingerdünnen Seilen, die über den Innenhof gespannt waren, schlugen Räder, und Mustafa schluckte gleich drei Fackeln, die ihm Emilio zuwarf – ein Trick, den sie erst vor ein paar Tagen eingeübt hatten. Archibaldus hatte Johann mit einer Karaffe Wein in der Herberge zurückgelassen. Er wollte nicht riskieren, dass der Alte ihnen betrunken die Vorstellung vermasselte.
Einer der Höhepunkte war wie so oft Johanns Trick mit dem Ei. Er hatte sich dafür eines der venezianischen Ratsmitglieder ausgeguckt, einen blassen älteren Herrn in schwarzem Rock. Der Mann trug dunkle Augengläser, die mit einem Bügel an seinen Ohren hingen und ihn wie ein großes Insekt oder eine Schlange aussehen ließen. Johann hatte von solchen Brillen schon gehört, sie aber noch nie zuvor gesehen. Vermutlich auch deshalb hatte er sich den hochgewachsenen Signore für seinen Zaubertrick ausgewählt.
Das Ei war in der Innenseite seines Rocks versteckt, wo der Mann es schließlich mit spitzen Fingern unter großem Applaus hervorzog. Der bleichgesichtige Patrizier wirkte einen kurzen Moment überrascht, dann umspielte ein spöttischer Zug seine Lippen. Er zog einen spitzen Dolch hervor, bohrte das Ei an und saugte es gierig aus. Dabei erinnerte der Mann Johann an eine zischende schwarze Schlange.
Nach der Vorstellung, als Johann in seinem bunten Kostüm ein wenig abseits saß und einen heißen Gewürzwein gegen die Kälte trank, kam der Mann zu ihm. Hastig stellte Johann den Becher weg und verbeugte sich tief. Er hoffte, dass ihn der Patrizier nicht dafür bestrafte, dass er ihn vor all den anderen zum Narren gemacht hatte. Doch dieser lächelte nur milde. Er trug einen Spitzbart und buschige schwarze Augenbrauen, sein Gesicht war weiß, als hätte er es mit Kalk eingepinselt.
„Ein hübsches Kunststück, mein Junge“, sagte der Venezianer. Seine Stimme klang leise und heiser. Er sprach deutsch mit Johann, wobei sein Deutsch einen weichen exotischen Klang hatte, der Johann eigentümlich vertraut vorkam, wenn er auch nicht wusste, warum. „Woher wusstest du, dass ich Eier mag?“
Johann grinste. Offenbar war ihm der Mann freundlich gesinnt. „Ihr vergesst, dass ich ein Zauberer bin“, erklärte er augenzwinkernd. „Außerdem mag jeder Eier, nicht wahr? Eier haben etwas zutiefst Symbolisches. Nicht umsonst spielen sie in vielen christlichen Bräuchen eine Rolle.“
„Da hast du wohl recht.“Der Mann lachte leise. Johann hatte das Gefühl, dass er ihn hinter den dunklen Augengläsern interessiert musterte. „In Eiern steckt das Leben in seiner reinsten Form, und wenn wir sie essen, essen wir auch das Leben. Wir saugen es förmlich in uns auf. Ein schöner Gedanke, wie ich finde.“
Der Patrizier lächelte schmal, und wieder glaubte Johann, eine alte Schlange vor sich zu sehen. „Für einen kleinen Gaukler weißt du einiges“, sagte der Mann schließlich. „Oder bist du etwa ein fahrender Scholast? Ein junger Klosterschüler, der seinem Abt entwischt ist?“Er musterte ihn spöttisch. „Oder vielleicht jemand anderem?“
„Ich … ich habe tatsächlich ein wenig studiert“, erwiderte Johann, der stolz darauf war, dass der Mann ihn für einen Studenten hielt. „Und ich spreche auch etwas Latein und Griechisch.“
„Tatsächlich?“Der Patrizier nestelte an seiner Brille, als würde er Johann nun besonders aufmerksam mustern. „Quemadmodum omnium rerum, sic litterarum quoque intemperantia laboramus“, sagte er schließlich.
„Non vitae sed scholae discimus“, gab Johann grinsend zurück, der verstanden hatte, dass der Mann ihn prüfen wollte. Es war ein bekanntes Zitat von Seneca, das er von Archibaldus erst kürzlich gehört hatte. „Si tibi libet colloqui in hoc modo: Homo Deus est“, fügte er noch hinzu.
Die letzten Worte waren ihm über die Lippen gekommen, ohne dass er weiter nachgedacht hatte.
Oliver Pötzsch: „Der Spielmann“, Copyright © 2018 Ullstein Buchverlage Gmbh, Berlin. ISBN 978-3-471-35159-8