Weiter rudern in der Kloake
Indien sucht nach einer Lösung der Wasserkrise
Vor mir dichtes, grünes Gras, so weit die Augen sehen möchte. Dazu weist ein Schild der Naturschutzbehörde von Tamil Nadu darauf hin, kein Plastik in die hiesigen Pallikanarai-feuchtgebiete zu werfen. Doch schon die Nase sagt, dass hier etwas stinkt. Ein Blick nach links zeigt einen Abwasserkanal, der eine schwarze Brühe in die Feuchtgebiete leitet. Die weißen Punkte in der Ferne sind auch keine Spot Bill Ducks, die laut dem Schild der Naturschutzbehörde im Gras versteckt sein sollen, sondern Hochhäuser und Fabrikgebäude. Bundesstaat Kerala versorgt werden. „Es stimmt, dass der Sommermonsun im letzten Jahr sehr spät kam. Auch dass der für Chennai wichtigere Nordost-monsun schwach ausfiel. Aber wenn jahrelang die ganze Stadt gedankenlos zubetoniert wird und das Regenwasser nicht mehr durch den Boden ins Grundwasser sickern kann, ist die Wasserkrise eine logische Folge“, schließt Avilash unaufgeregt.
Wasserknappheit aufgrund
von Bürokratie
Dass seine junge Kollegin Akshaya Ayyangar optimistischer ist, hat einen Grund: „Ich arbeite erst seit fünf Jahren in Chennai im Bereich Wassermanagement und sehe, dass es seit 2015 Fortschritte gibt.“Auch auf Regierungsseite gebe es mittlerweile fähige Experten, mit denen sie gut zusammenarbeiten könne. Dass es nur langsam vorangehe, habe einen Hauptgrund. „Es ist ein Koordinationsund Kommunikationsproblem“, meint die Technologin. „Mindestens 13 staatliche Behörden müssen in Sachen Wasser zusammenarbeiten. Nur selten weiß die eine Behörde, was die andere tut.“Dann nennt Ayyangar eines der vielen kleinen Probleme: „Nur etwa zehn Prozent der Haushalte in Chennai besitzen einen Wasserzähler. Wasserverschwendung ist die Folge.“Doch sofort ist die junge Frau wieder optimistisch und sagt zwinkernd: „Übrigens haben wir hier im Viertel seit Jahren kein Wasserproblem mehr.“Anschließend schickt sie mich zwei Straßen weiter zu einem Herrn, der dafür verantwortlich ist.
„Sie kommen aber spät“, sagt Sekhar Raghavan von der Organisation Rain-center zur Begrüßung. „Die BBC war schon im Juni hier.“– „Vielleicht bin ich ja der erste, der vor der nächsten Krise kommt“, antworte ich. Als Antwort gibt es das Lachen eines Menschen, der es gewohnt ist, seit 25 Jahren gegen Windmühlen zu kämpfen, ohne aufzugeben. „Oh, die wird es mit Sicherheit geben, auch wenn sie nicht wieder zu einer Weltnachricht werden sollte“, sagt Raghavan. „Der aktuelle Nordost-monsun brachte zwar mehr Regen als im letzten Jahr, trotzdem war es weniger als im Durchschnitt der Vorjahre.“Dann führt mich Raghavan auf den Hof des Hauses seines Vermieters. „Wenn dieses Rohr voll ist, bedeutet das: Der erste Regen hat die Dachterrasse gereinigt. Dann fließt das Regenwasser in das andere Rohr und von dort in einen unterirdischen 50 000-Liter-wassertank.“Doch das Regenwasserauffangsystem, das Raghavan vor zwei Jahrzehnten für ganz Chennai entworfen hat, ist noch simpler. „Normal würde das Regenwasser vom Betonboden des Hofes auf die Straße fließen und von dort in den Fluss.“Diesen kann man von hier riechen. Dann zeigt Raghavan auf einige große Gullys und einen Brunnen. „Doch wir
ständigkeiten des Chief-ministers mit denen der Zentralregierung von Modi. Einen Kilometer nördlich ein Bild, das auch aus Delhi, Kanpur oder Mumbai stammen könnte: Eingerahmt von Neubauten rudert ein Sportler auf einer riesigen Kloake in den Sonnenuntergang. Der Fluss, auf dem ein Dutzend Ruderfreunde ihrer Passion nachgehen, heißt Adyar und besteht zu dieser Jahreszeit fast ausschließlich aus Abwässern. Genauso wie der Cooum River und der Buckingham Canal, die beide ebenfalls durch Chennai fließen.
Sekhar Raghavan hatte darauf hingewiesen, dass die schwarze Brühe der Flüsse Chennais ins Grundwasser sickert. Dass es auch für dieses Problem seit Jahren Lösungen gibt, beschreibt Gandhi Sooad, die Direktorin von Waterneer, gegenüber Telepolis: „Es gibt hoch effiziente Wasserreinigungsanlagen, die das Abwasser aufbereiten und sofort an die Bewohner zurückgeben, ohne es zuerst in einen Kanal zu leiten. Diese dezentralen Reinigungsanlagen sind für Einfamilienhäuser erhältlich. Für Hochhäuser oder ganze Wohnviertel.“Doch die Modi-regierung plant lieber 3 000 zusätzliche Staudämme. Dazu neue Kanäle von einer Gesamtlänge von 15 000 Kilometern. Diese sollen die 30 großen Flüsse Indiens miteinander verbinden, um auch die Großstädte mit Wasser zu versorgen. Ein Befürworter dieses Megaprojekts ist Mukesh Ambani, der Besitzer des Konzerns Reliance Industries Limited, der von Narendra Modi in den letzten Jahren mit einer Reihe von Staatsaufträgen bedacht wurde.
Dass bei solchen massiven Eingriffen in die Natur auf einen Konzernchef gehört werden sollte, bezweifelt Dr. Gopal Krishna von Toxicwatch. „Dass natürliche Flüsse in ein künstliches Netzwerk verwandelt werden können, heißt nicht, dass man einfach Wasser von A nach B transportieren kann, wie es mit Containern getan wird“, sagt Krishna. „Flüsse sind nicht einfach ,Dinge‘, in denen Wasser fließt – sie sind ein Teil der Dynamik der Umwelt, die sie umgibt. Die derart groß angelegte Umleitung der Flüsse wird Teilen Indiens das bescheren, was dem Aralsee widerfahren ist.“
Ein unerwarteter Regenschauer an einem Januarmorgen zeigt, wer in Chennai am meisten zu leiden hat: Die Ärmsten der Armen, die auf den Bürgersteigen schlafen.
Auch das weiß Dr. Gopal Krishna: „Die wachsende finanzielle Ungleichheit im Land ist ein schwerwiegendes Problem. Ob Luftverschmutzung oder der Mangel an Trinkwasser: Die Ärmsten trifft es am härtesten.“
Ökologischer Supergau nur eine Frage der Zeit
Natürlich gibt es auch das Chennai der oberen Mittelklasse mit Luxusgebäuden, Shoppingcenter und Aircondition-cafés, in denen der Milchtee 190 Rupien kostet, anstatt zehn. Dort können die Begüterten ihresgleichen treffen, die ihnen stolz erzählen, in Chennai gebe es keine Slums und keiner müsse auf der Straße schlafen. Auch die 100-Millionen-dollar schweren Chennai Super Kings werden oft erwähnt, weil sie schon drei Mal die indische Kricket-premier-league gewonnen haben. Ein elegant gekleideter älterer Herr ließ auf der Strandpromenade zumindest durchblicken, dass er um arme Menschen in Chennai weiß. „Unsere Flüsse sind so dreckig, weil die Armen und Ungebildeten ihren Dreck dort abkippen und am Ufer ihre Notdurft verrichten.“Etwas Vorbildliches erinnerte mich dann noch an Deutschland: Die Regierung von Tamil Nadu ist mit einer Verschärfung der Umweltgesetze gegen ihre dreckigen Ledergerbereien vorgegangen – die sind jetzt nach Kolkata umgezogen. Das Leder verarbeitende Gewerbe in Chennai kauft jetzt in Bantala-kolkata ein. Dort verspricht die Regierung durch das Geschäft mit dem dreckigen Leder 500 000 Jobs, auch wenn das Wachstum auf Kosten der eigenen Feuchtgebiete gehen wird. Wie sagte Dr. Avilash Roul vor einem halben Jahr an die Regierung von Westbengalen gerichtet: „Lernt aus unseren Fehlern und stoppt die Zerstörung der Feuchtgebiete in Kolkata.“
Chennai wird sein Wasserproblem in den Griff bekommen, das ist sicher – die Frage ist nur, wie viel Krisen es dazu noch brauchen wird. Ebenso sicher ist, dass Kolkata seinen ökologischen Supergau bekommen wird, gegen den die „Chennai-krise“ein unterhaltsamer Kindergeburtstag ist. Sicher ist auch, dass die Avilahs, Ayyangars, Gopals, Raghavans und Sooads ihren Mut und Humor nicht verlieren dürfen – von alleine fallen keiner Regierung und keinem Konzern die Wörter Nachhaltigkeit, Ungleichheit und Umweltschutz auf den Kopf.
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Die Autorin ist Referentin für Sozialpolitik Caritas Luxemburg.
1) Oxfam: Die reichsten 10 Prozent verursachen die Hälfte der weltweiten Treibhausgase; Pressemitteilung vom 2. Dezember 2015
2) Statec 2019
3) Statec 2019
4) Statec 2019 5) https://gouvernement.lu/dam-assets/ documents/actualites/2019 /12-décembre/pnec-synthese.pdf
6) Carbon pricing leadership commission: Report of the High-level Commission on Carbon Prices (2017)
7) IPCC Sonderbericht 1,5°C globale Erwärmung, https://www.de-ipcc.de/256.php