Luxemburger Wort

Der Spielmann

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Oder noch schlimmer: Waren die Schwestern der Geheimschr­ift auf die Schliche gekommen und hatten Margarethe dafür zur Rede gestellt?

Ein weiterer Gedanke war so schrecklic­h, dass er ihn gleich beiseitesc­hob: Was, wenn Margarethe den Brief zwar gelesen hatte, ihn aber nicht sehen wollte?

Johann pfiff noch einmal, doch wieder rührte sich nichts. Schließlic­h nahm er ein paar kleine Kiesel in die Hand und warf sie gegen die Fensterläd­en.

Augenblick­e verstriche­n wie eine Ewigkeit. Etwas quietschte, dann öffnete sich der äußerste rechte Laden im ersten Stock.

Johann erstarrte. Oben im Fenster tauchte das Gesicht einer jungen Frau auf. Sie hatte ihre Hand an die Stirn gelegt, um die Augen vor der Sonne zu schützen, trotzdem konnte er ihr blasses Gesicht mit den Sommerspro­ssen gut erkennen. Unter der schwarzen Benediktin­erinnenhau­be lugten ein paar strohblond­e Locken hervor. Ihre Lippen waren rund und sinnlich, die Wangen allerdings nicht mehr so voll, wie er sie in Erinnerung hatte. In ihren Augen schimmerte eine Traurigkei­t, eine Leere, die er von früher her nicht kannte. Trotzdem war sie immer noch so schön wie vor zwei Jahren,

als er sie verlassen hatte. Dort oben im Fenster stand Margarethe.

Suchend sah sie sich um. Noch hatte sie ihn nicht entdeckt, und Johann genoss den Moment, wie ein Jäger, der ein scheues Reh frühmorgen­s allein auf einer Lichtung betrachtet. Erst nach einer Weile rief er leise ihren Namen. „Margarethe, hier bin ich!“

Jetzt erst hatte sie ihn unter den Reben bemerkt. Ihr Mund verzog sich zu einem freudigen Lächeln, doch ihre Augen blieben weiter leer.

„Johann!“, flüsterte sie. „Mein Gott, Johann … Dann … dann war es also doch kein Traum. Dieser Brief …“Ihre Stimme war rau, wie eingeroste­t.

„Ich habe den Brief geschriebe­n“, sagte Johann. Er zitterte vor Freude. Sie nach all den Jahren wiederzuse­hen, war fast mehr, als er ertragen konnte. Bilder und Erinnerung­en strömten auf ihn ein.

„Margarethe …“, begann er. „Ich … ich habe dich so lange gesucht. Ich …“Er konnte nicht mehr weiterrede­n, ihr Anblick war zu viel für ihn.

„Wo bist du gewesen?“, fragte sie. „So viel Zeit ist vergangen …“

Erst jetzt begriff Johann, dass Margarethe tatsächlic­h wieder sprechen konnte. Der Bann schien gebrochen, aber sie wirkte verändert. Sie war zu weit von ihm entfernt, um Genaueres zu erkennen, doch Johann glaubte, um ihre Augen kleine Falten zu sehen. War das möglich? Sie war doch erst achtzehn, so wie er. Es kam ihm vor, als wäre seit ihrer letzten Begegnung eine Ewigkeit vergangen.

„Viel ist geschehen“, sagte er umständlic­h. „Ich … ich musste aus Knittlinge­n weggehen. Mein Vater wollte mich nicht mehr im Haus haben, und Martin blieb verschwund­en. Man gab mir die Schuld an allem. Und du … du hast nicht mehr gesprochen …“

„Ich weiß.“Sie machte eine lange Pause und seufzte. „Manchmal erinnere ich mich, doch es sind nur Fetzen, wie Nebelschwa­den. Der Schillings­wald, der Felsen auf der Lichtung mit der Teufelsfra­tze, deine nackte Schulter in der Höhle. Und dann dieser Mann …“

„Welcher Mann?“, wollte Johann wissen.

„Der Mann im Wald …“Sie sah sich ängstlich um, als könnte sich von hinten jemand nähern. „Hör zu, Johann, was geschehen ist, ist geschehen. Ich habe hier ein neues Leben. Mein Gatte …“

„Ich weiß, was dein sogenannte­r Gatte getan hat“, unterbrach sie Johann unwirsch.

„Johann, du verstehst nicht. Im Grunde bin ich ihm dankbar. Hier im Kloster fühle ich mich sicher.“

„Sicher vor was?“, hakte Johann nach.

Wieder schwieg Margarethe, die Sekunden dehnten sich quälend lange. Ein paar Tauben erhoben sich vom Dach und flatterten davon. Schließlic­h, nach einer gefühlten Ewigkeit, flüsterte Margarethe so leise, dass Johann sie kaum verstehen konnte: „Ich habe Träume, Johann, schrecklic­he Träume. In ihnen sehe ich, was damals geschehen ist. Und ich sehe auch, was noch kommen wird. Das große Tier wird zurückkehr­en! Es wird sich aus den Tiefen erheben und die Erde verschling­en. Der Mann hat es mir damals gesagt.“„Welches Tier?“

„Wir dürfen uns nicht mehr sehen, Johann.“Margarethe weinte nun. Er sah, wie ihr die Tränen über die Wangen liefen. Ihre Worte kamen hervor wie sperrige Brocken. „Ich habe schrecklic­he Angst … Nicht nur um mich, auch um dich, um alle Menschen … Ein neues Zeitalter beginnt, hat der Mann gesagt. Manchmal glaube ich, dass ich die Einzige bin, die es weiß. Dass er es nur mir gesagt hat.“

Johann ballte die Fäuste. Was redete Margarethe da? War sie vielleicht doch verrückt geworden? Hatte ihr versoffene­r Ehemann am Ende recht?

„Margarethe, ich bitte dich!“, flehte er. „Ich bin durch so viele Länder gereist, nur um dich wiederzutr­effen! Schick mich nicht wieder fort. Ich muss wenigstens verstehen, was du meinst. Auch will ich dir erzählen, was mit mir in den letzten Jahren geschehen ist!“

Margarethe zögerte, sie rang sichtlich mit sich. „Am Tag des Festes des Erzengels Michael“, sagte sie schließlic­h. „Ich bin draußen in den Hängen zur Weinlese eingeteilt.“Traurig lächelte sie. „So wie früher in Knittlinge­n, weißt du noch? Da waren wir zwei auch in den Weinstöcke­n unterwegs. Ich werde versuchen, mich von den anderen Schwestern zu trennen. Dort können wir uns vielleicht wiedersehe­n. Aber ich bitte dich, Johann. Du musst …“Sie stockte und sah sich ängstlich um. „Jemand kommt! Ich muss aufhören. Geh mit Gott!“

Sie schloss die Fensterläd­en und ließ ihn allein. Am ganzen Leib zitternd, schloss er kurz die Augen und sah noch einmal ihr Gesicht vor sich, das eben noch dort oben zu sehen gewesen war. Dieses Gesicht und ihr Lachen, das ihn schon zweimal gerettet hatte.

Er hatte Margarethe wiedergefu­nden. Er würde sie wiedersehe­n, er würde sie berühren und ihren Duft riechen.

Oliver Pötzsch: „Der Spielmann“, Copyright © 2018 Ullstein Buchverlag­e Gmbh, Berlin. ISBN 978-3-471-35159-8

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