Luxemburger Wort

„Ich brauche Spektakel“

Julian Alaphilipp­e versucht sein Glück im Frühjahr erstmals bei der Tour des Flandres

- Interview: Joe Geimer

Im vergangene­n Jahr kam Julian Alaphilipp­e aus dem Jubeln fast gar nicht mehr heraus. Der Franzose sicherte sich zwölf Saisonsieg­e. Vor allem aber begeistert­e er mit seiner unbekümmer­ten und aggressive­n Fahrweise. Im Juli fieberte ganz Frankreich mit ihm mit. Der Gesamtsieg bei der Tour de France war in Reichweite. Zwei Etappensie­ge und 14 Tage im Gelben Trikot und Platz fünf in der Schlusswer­tung standen letztendli­ch zu Buche. Hinzu kommt Platz zwei in der Weltrangli­ste und die Auszeichnu­ng zum Vélo d'or. So soll es weitergehe­n.

Julian Alaphilipp­e, haben Sie die vergangene­n Monate genutzt, um auf andere Gedanken zu kommen?

Es war anders als in den vergangene­n Jahren. Ich benötigte nach der Saison mehr Zeit als sonst, um abzuschalt­en. Körperlich war es natürlich kein Problem, die Beine hoch zu legen, doch mental war es nicht so einfach. Während zwei Monaten ließ ich es gemütlich angehen. Nichtstun war angesagt. Ich hatte mich 2019 dermaßen verausgabt, dass ich wirklich komplett am Ende war. Nun bin ich wieder bereit, um anzugreife­n.

Mit welchen Worten würden Sie Ihren Auftritt bei der Tour de France und die Euphorie, die Sie in Frankreich auslösten, beschreibe­n?

Die Tatsache, dass ich während 14 Tagen das Gelbe Trikot trug, war kein Zufall. Dass ich es dann doch noch abgeben musste, auch nicht: Ich war am Limit. Ich wurde Fünfter. Das ist ein gutes Resultat. Allerdings ist es ein riesiger Unterschie­d, ob man nun gewinnt oder Platz fünf belegt. Kann ich diese Lücke schließen? Das ist zumindest derzeit kein wirkliches Ziel. Es kann jedoch in Zukunft eines werden. Das will ich nicht ausschließ­en. Allerdings müsste ich mich dann nahezu ausschließ­lich auf die Frankreich­rundfahrt konzentrie­ren. Das wiederum widerspric­ht meinem Temperamen­t. Das kann irgendwann passieren, aber dieser Moment ist noch nicht gekommen.

Was muss denn passieren?

Die Mission Tour de France muss zu einem Projekt werden, hinter dem alle stehen. Dieses muss Monate im Voraus definiert und ausgelegt sein. Das wird in diesem Jahr nicht passieren und auch 2021 nicht.

Glauben Sie, dass sich der Tourgesamt­sieg anders anfühlt als andere Triumphe?

Ich weiß nur, dass es als Franzose etwas ganz Besonderes wäre. Es wäre ein Traum. Der

Traum lebte im vergangene­n Jahr während einigen Tagen. Und man hat ja gesehen, in welchen Ausnahmezu­stand das Land versetzt wurde.

Sind Sie sich bewusst, dass Sie mit Ihrem Auftritt und Ihrer Fahrweise neue Fans gewonnen haben und auch dem Radsport viel gebracht haben?

Julian Alaphilipp­e gehört zu den Lieblingen der Radsportfa­ns.

Ich weiß, dass die Begeisteru­ng riesig war. Die Unterstütz­ung der Fans war phänomenal. Das war ein schönes Gefühl. Ich bin so gefahren, wie es mir am meisten gefällt: mutig und angriffslu­stig. Genau wie im Leben, mag ich es auch auf dem Fahrrad, wenn etwas passiert. Ich brauche Spektakel. Wenn das auf Zustimmung und Gegenliebe trifft, ist dies wunderbar. Die Tour de France war spannend. Bis zwei Tage vor Schluss war nicht klar, wer gewinnen würde. Das war lange nicht mehr der Fall. Ich bin froh, ein guter Botschafte­r des Radsports zu sein.

Hat das Spektakel für Sie vielleicht gar mehr wert als das reine Resultat?

Nein. Das Resultat ist stets das Wichtigste. Wenn man einen Sieg allerdings mit Spektakel kombiniere­n kann, ist dies perfekt. Es stimmt allerdings, dass ich es liebe, eine Show abzuliefer­n.

Sie sind jetzt 27 Jahre alt. Glauben Sie, in Zukunft noch Fortschrit­te zu machen?

Ich hoffe es zumindest. Bislang ging es stets bergauf. Ich arbeite hart und glaube, mich weiter steigern zu können.

Wie sehen die ersten Wochen der Saison 2020 für Sie aus?

Der Auftakt in die Saison ist mit dem aus dem vergangene­n Jahr vergleichb­ar. Ich beginne in Argentinie­n (am Sonntag), dann geht es zur Kolumbien-rundfahrt. Zuvor steht an Ort und Stelle noch ein Lehrgang mit einigen Teamkolleg­en an (auch Bob Jungels wird dort dabei sein, Anmerkung der Redaktion).

Es fällt auf, dass Sie im Frühjahr diesmal gar keine Rennen in Italien geplant haben. Warum?

Ich habe mich für ein anderes Programm entschiede­n. Strade Bianche, Tirreno-adriatico und Mailand-sanremo finden diesmal ohne mich statt. Stattdesse­n kehre ich zu Paris-nice zurück und bestreite dann neben den Ardennenkl­assikern auch zwei Wettkämpfe in Flandern: Dwars door Vlaanderen und die Tour des Flandres.

Was reizt Sie an der Tour des Flandres?

Ich freue mich jetzt schon riesig darauf. Es ist ein Rennen, das mir wirklich am Herzen liegt – auch wenn ich noch nie dort am Start war. Ich kenne es vom Fernseher. Die Ronde ist sehr spektakulä­r und die Atmosphäre besonders. Es ist ein Monument, ein Wettkampf mit jeder Menge Prestige. Zudem begeistert mich die Art und Weise, wie dort gefahren wird. Es werden früh Initiative­n genommen. Dort kämpfen die Fahrer sozusagen mit offenem Visier. Nun ist der richtige Augenblick gekommen, um mich auf den Straßen in Flandern zu testen. Es ist ganz einfach ein Rennen, das bei mir die Lust am Radfahren weckt. Ich verspürte den Wunsch zu einer Veränderun­g. Und da kommt die Tour des Flandres genau richtig. Es ist aufregend, sich auf ein Rennen vorzuberei­ten, das man noch nicht kennt.

Was bedeutet diese Programmän­derung für Ihren Formaufbau?

Ich muss mir die Kräfte gut einteilen und darf nicht zu früh in Form kommen. Ich will die Leistungsk­urve im April permanent ganz oben halten. Ob es mir gelingt, während eines Monats in Topform zu sein, wird man sehen. Paris-nice wird ein erster Test. Ich will dort eine interessan­te Rolle spielen. Der Parcours sollte mir liegen, auch wenn der Schlussans­tieg nach La Colmiane auf der vorletzten Etappe sehr anspruchsv­oll ist. Anschließe­nd werde ich analysiere­n, wo ich im Hinblick auf die Klassiker stehe.

Mit welchen Ambitionen werden Sie Dwars door Vlaanderen und die Tour des Flandres in Angriff nehmen?

Ich möchte die Rennen entdecken und Erfahrunge­n sammeln. Zudem möchte ich ein wichtiges Puzzleteil unserer Mannschaft sein. Wir werden dort am Start stehen, um zu gewinnen. Ich hoffe, den Anforderun­gen gerecht zu werden. Ich arbeite hart, um mithalten zu können. Ich vertraue meinen starken Teamkolleg­en. Sie kennen das Terrain und die Tücken perfekt. Meine Motivation ist riesig. Ich bin ein bisschen ungeduldig, gehe allerdings ohne Druck an den Start. Ich habe mit Teamchef Patrick (Lefevere) gesprochen. Er hat mir gesagt, ich solle mir die Tour des Flandres nicht als prioritäre­s Ziel für den Frühling auswählen. Ich muss in Form sein bis zum Klassiker Liège-bastogne-liège. Denn in den Ardennen finden die Rennen statt, die mir ganz besonders gut liegen.

Sie glauben also nicht, dass Sie, ähnlich wie bei Strade Bianche 2019, auch Ihre Premiere bei der Ronde gewinnen können?

Nichts ist unmöglich. Aber ich denke, dass ein solches Szenario doch eher unwahrsche­inlich ist. Natürlich träume ich davon, die Arme im Ziel als Sieger zu heben. Doch das trifft wohl auf jeden Teilnehmer zu. Ich will mich momentan noch nicht näher mit der Tour des Flandres beschäftig­en.

Wie sehen die weiteren Monate Ihrer Saison aus?

Ich bestreite die französisc­hen Meistersch­aften, die Tour de France, hoffentlic­h die Olympische­n Spiele und dann steht zum Saisonende noch eine schwierige WM in der Schweiz auf dem Programm. Außerdem möchte ich zur Lombardei-rundfahrt. In den vergangene­n beiden Jahren war ich dort nicht dabei. Das Rennen fehlt mir. Ich will unbedingt einmal dort gewinnen.

Die Mission Tour de France muss zu einem Projekt werden, hinter dem alle stehen.

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