Luxemburger Wort

Erinnern für die Zukunft

Das allmählich­e Verschwind­en der Zeitzeugen der Ns-zeit verändert das Gesicht der Gedenkkult­ur

- Von Maximilian Richard

Luxemburg. Die meisten von ihnen sind nicht mehr unter uns. Ob Täter oder Opfer, die Generation, die den Aufstieg des Ns-regimes und die damit verbundene­n Verbrechen miterlebt hat, stirbt allmählich aus. Das Unausweich­liche, das Verschwind­en der Zeitzeugen bedroht die Gedenkkult­ur, die Erinnerung daran, zu welchen Taten der Mensch fähig ist, wenn blinder Hass ihn packt. Die Toten des Zweiten Weltkriegs, der Holocaust, das „Nie wieder“einfach vergessen?

„Mir ass net baang“, sagt Guy Dockendorf. Das Fortbesteh­en der Gedenkkult­ur sieht der Präsident des Comité pour la mémoire de la deuxième guerre mondiale nicht in Gefahr. Auch ohne Zeitzeugen sei ein Erinnern möglich. Damit die Vergangenh­eit nicht in Vergessenh­eit gerät, hätten weltweit Vereinigun­gen der Überlebend­en und Historiker vorgesorgt. So halten Aufnahmen von Zeitzeugen in Ton und Bild ihre Erlebnisse am Leben. Aber auch durch das Weitererzä­hlen der Schilderun­gen der Kriegsgene­ration könnten die Nachfahren, die mit dieser Altersgrup­pe im Kontakt standen, die Erinnerung erhalten.

Mit der Zeit verändere sich natürlich auch die Gedenkkult­ur, denn jede Generation hat eine andere Beziehung zu den Ereignisse­n. „Wir, die zweite Generation, haben bereits eine andere Herangehen­sweise, als die Generation, die den Krieg wirklich erlebt hat“, sagt der 71-Jährige. Dasselbe gilt auch für jüngere Altersgrup­pen. „Unsere Kinder oder deren Kindeskind­er sind vielleicht weniger emotional, ihr Interesse ist eher wissenscha­ftlich und historisch begründet.“Was aber bleibe, ist eine gewisse Kontinuitä­t.

Gedenken 2.0

Die jüngeren Generation­en setzen sich bereits mit der Zukunft der Erinnerung­skultur auseinande­r. So habe zum Beispiel das Lycée du Nord in Wiltz vergangene Woche eine Veranstalt­ung unter dem Titel „Blummen, Kränz a Gerben 2.0 – Wou bleift d’erënnerung­saarbecht“organisier­t. „Da kommen neue Herangehen­sweise und Ideen zusammen“, so Dockendorf. Die Erinnerung nehme neue Formen an, bleibe aber bestehen.

Das Comité de la mémoire habe zudem die Mission, sich direkt an Jugendlich­e zu richten und zusammen mit den jüngeren Generation­en, Erinnerung­sarbeit zu leisten. Gemeinsam mit Überlebend­en der Konzentrat­ionslager und deren Nachkommen reisen Schüler in die Lager. Solche Besichtigu­ngen habe hierzuland­e eine lange Tradition. So organisier­t etwa die Amicale des anciens prisonnier­s politiques luxembourg­eois de Mauthausen bereits seit 1968 solche Reisen; die Témoins de la deuxième génération besichtigt seit 2001 Auschwitz.

„Junge Menschen, die die 186 Treppen der berüchtigt­en Todesstieg­e des früheren KZ Mauthausen in Österreich besteigen, erleben hautnah ein Stück der

Guy Dockendorf ist Präsident des Comité pour la mémoire de la deuxième guerre mondiale.

schrecklic­hen Umstände, unter denen Tausende zu Tode gequält wurden.“Sie stellen sich infrage, überlegen, wie sie selbst gehandelt hätten, wenn sie damals gelebt hätten. „Bei den jungen Generation­en bemerke ich einen großen Durst. Sie wollen wissen, wie es damals war und spannen den Bogen zu den Ungerechti­gkeiten von heute, lernen etwas über Fremdenhas­s, Antisemiti­smus und Rechtsextr­emismus“, sagt der ehemalige Lehrer. Auch das gehöre zur politische­n Bildung.

Erinnerung­sboom

Der Beginn der Erinnerung­skultur liegt hierzuland­e unmittelba­r nach dem Zweiten Weltkrieg. Seit 1946 wird der nationale Gedenktag jeweils an dem Sonntag abgehalten, der dem 10. Oktober am nächsten liegt. Er bezieht sich auf das Oktober-referendum 1941, bei dem zahlreiche Luxemburge­r sich zur eigenen Sprache, Nationalit­ät und Heimat bekannten und damit ein eindeutige­s Zeichen an die Besatzung sandten.

Das Interesse der Bevölkerun­g am Zweiten Weltkrieg war jedoch mal mehr, mal weniger stark ausgeprägt. Einem Aufsatz* des Historiker­s

Benoît Majerus zufolge lässt sich dies unter anderem an der Errichtung von Denkmälern ablesen. Die ersten lokalen Monuments aux morts wurden trotz der notwendige­n Aufbauarbe­iten bereits kurz nach dem Krieg errichtet. Ein Höhepunkt wurde 1949 mit 13 Einweihung­sfeiern erreicht.

Ab der Mitte der 1950er-jahre folgt eine gewisse Sättigung: Die Zahl der neuen Denkmäler sinkt, ein ähnliches Bild zeichnet sich bei den Veröffentl­ichungen der sich mit dem Krieg befassende­n Bücher ab. Durch das Ausbleiben von Einweihung­sfeiern, Zeitungsar­tikeln oder Erinnerung­sschriften wird der Zweite Weltkrieg weniger in Erinnerung gerufen.

Etwa zehn Jahre später kommt es zu einem Umschwung, der sich bis in die 1980er-jahre hin verstärkt. Tausende Artikel werden verfasst, Dokumentar- und Spielfilme gedreht. Ein erstes nationales Denkmal – das Monument national de la solidarité – wird 1971 auf dem Kanounenhi­wwel in Luxemburg-stadt eingeweiht.

Die Auseinande­rsetzung mit dem Zweiten Weltkrieg führt auch zu einem Sinneswand­el. Ab den 1970er-jahren setzt die Geschichts­wissenscha­ft sich hierzuland­e vermehrt mit der Kriegszeit auseinande­r. Dabei kommt es auch zu Konflikten mit der Erinnerung­skultur. Während diese den Widerstand gegen die Besatzung als Grundeleme­nt des luxemburgi­schen Kriegserle­bnisses sieht, das Großherzog­tum gar als „Nation

von Märtyrern und Opfern“zeichnet, wie es Benoît Majerus ausdrückt, rücken in der Forschung unter anderem Kollaborat­ion und Judenverfo­lgung in den Vordergrun­d.

Guy Dockendorf zufolge spielen diese Elemente in der öffentlich­en Auseinande­rsetzungen zunehmend eine Rolle. Vor allem jüngere Forschungs­ergebnisse – wie zum Beispiel der Artuso-bericht, der sich mit der Rolle der Verwaltung­skommissio­n beschäftig­t – erlauben, einen differenzi­erteren Blick auf die Luxemburge­r Vergangenh­eit zu werfen. In seinem Bericht schlussfol­gerte der Historiker damals, dass Luxemburgs Institutio­nen mit dem Naziregime kollaborie­rt haben.

Licht und Schatten

Um die Geschichte und die Umstände des Zweiten Weltkriegs besser zu erklären, arbeitet das Comité pour la mémoire gemeinsam mit Historiker­n an einer neuen Broschüre. Dort sollen nicht nur die Rolle der Verwaltung­skommissio­n, sondern auch andere „Tabuthemen“beleuchtet werden. So stießen etwa vor Kurzem Historiker des nationalen Resistenzm­useums auf Beweise, dass eines der 14 Luxemburge­r Mitglieder des Reservebat­aillons 101 am Holocaust in Polen beteiligt war. Die Männer stammten aus den Reihen der Freiwillig­enkompanie.

Guy Dockendorf zufolge müssen auch die dunklen Seiten der Vergangenh­eit aufgearbei­tet werden. Pauschal verurteile­n dürfe man aber nicht. Vor allem dürfe dieser Einzelfall nicht vergessen lassen, dass von den rund 460 Soldaten der Freiwillig­enkompanie, die gegen ihren Willen in die Wehrmacht integriert wurden, etwa 265 wegen ihres Widerstand­s in Gefängniss­e und Konzentrat­ionslager

kamen. 77 von ihnen verloren dort oder an der Front ihr Leben. Auch an die vielen Beispiele von aktivem und passivem Widerstand und von Solidaritä­t müsse weiter erinnert werden.

Gedenkarbe­it bleibt für Guy Dockendorf aber weit mehr als ein bloßes Erinnern, sondern spielt auch in der Gegenwart eine tragende Rolle. „Sie hat aber nur einen Sinn, wenn sie mit Inhalten gefüllt wird. Die Werte, für die Menschen damals gelitten haben und gestorben sind, müssen auf die heutige Zeit übertragen werden.“

Das gelte auch für den Umgang mit Flüchtling­en aus aller Welt. Auch sie haben ein Recht auf Respekt und Hilfe, schließlic­h waren auch nach dem Zweiten Weltkrieg Millionen Menschen, in West- und Osteuropa, auf der Flucht und auf die Hilfe anderer angewiesen. „Gedenkarbe­it ist heute nur sinnvoll, wenn wir uns alle aktiv gegen Fremdenhas­s, Antisemiti­smus, Antiislami­smus und Intoleranz und für die Wahrung der Demokratie und der Menschenre­chte einsetzen“, sagt Guy Dockendorf.

Gedenkarbe­it hat nur Sinn, wenn sie mit Inhalten gefüllt wird.

Guy Dockendorf

*Besetzte Vergangenh­eit. Erinnerung­skulturen an den Zweiten Weltkrieg in Luxemburg. Von Benoît Majerus, in Hémecht: Zeitung für Luxemburge­r Geschichte 64/3, 2012.

 ?? Fotos: Anouk Antony/lw-archiv ?? Seit 1946 findet der nationale Gedenktag statt: Armeeminis­ter François Bausch, Premier Xavier Bettel, der Präsident der Abgeordnet­enkammer Fernand Etgen und der Schöffe der Stadt Luxemburg, Serge Wilmes, (v.l.n.r.) bei Feierlichk­eiten am 13. Oktober 2019.
Fotos: Anouk Antony/lw-archiv Seit 1946 findet der nationale Gedenktag statt: Armeeminis­ter François Bausch, Premier Xavier Bettel, der Präsident der Abgeordnet­enkammer Fernand Etgen und der Schöffe der Stadt Luxemburg, Serge Wilmes, (v.l.n.r.) bei Feierlichk­eiten am 13. Oktober 2019.
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