„Ohrenbetäubend geschwiegen“
Missbrauchsbeauftragte der deutschen Regierung verlangt einen Pakt gegen sexuellen Missbrauch
Berlin. Zehn Jahre nach Bekanntwerden des Missbrauchsskandals in Deutschland haben Experten und Betroffene gestern mehr gesamtgesellschaftliche Anstrengungen beim Kampf gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen gefordert. So verlangte der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-wilhelm Rörig, einen Pakt gegen sexuellen Missbrauch. An diesem müssten sich neben der Politik und den Kirchen, Schulen und Sportverbänden auch die Zivilgesellschaft, die Medien sowie Mediziner beteiligen. Ziel müsse die „maximale Verringerung der Gewaltverbrechen gegen Kinder und Jugendliche sein“. Die bislang ergriffenen Maßnahmen seien unzureichend.
Rörig kritisierte, in Deutschland werde „ohrenbetäubend geschwiegen“. „Ich bin immer wieder erschrocken darüber, mit welcher Gelassenheit sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche von Teilen der Gesellschaft hingenommen wird.“
Sensibilisierungskampagne
Vor zehn Jahren wurden Missbrauchsfälle am Berliner Canisiuskolleg publik. In den folgenden Monaten wurden weitere Fälle in anderen kirchlichen, aber auch weltlichen Einrichtungen wie der Odenwaldschule öffentlich. Die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) verzeichnet jährlich mehr als 20 000 Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch sowie Missbrauchsabbildungen von Kindern.
Der Kampf gegen sexuellen Missbrauch dürfe nicht am Geld scheitern, so Rörig. Er plane eine Aufklärungs- und Sensibilisierungskampagne ähnlich der Antiaids-kampagne in den 1980erjahren. Dazu brauche es rund fünf Millionen Euro jährlich.
Der Sprecher der Opfer-initiative „Eckiger Tisch“, Matthias Katsch, betonte mit Blick auf die Katholische Kirche, die Bischöfe begännen erst jetzt, sich ihrer Verantwortung zu stellen. In der Entschädigungsfrage liege ein machbarer Vorschlag auf dem Tisch. Jetzt müssten sich die Bischöfe dazu verhalten. Die von einer Arbeitsgruppe vorgelegten Empfehlungen sehen Entschädigungen von bis zu 400 000 Euro vor. Katsch kritisierte zudem die Evangelische
Kirche. Diese ducke sich weg und verhalte sich bei der Entschädigungsfrage so, als ob es sie nichts anginge.
„Wir brauchen Zeit“Unterdessen baten die katholischen Bischöfe um Geduld für die weitere Aufarbeitung. Bei ihrer turnusmäßigen Sitzung in Würzburg, dem Ständigen Rat, erklärten sie: Die aus der jüngsten Missbrauchsuntersuchung, der sogenannten Mhg-studie, erwachsenen Vorhaben bräuchten Zeit zur Bearbeitung. „Diese Zeit brauchen wir, und wir hoffen dafür auf Verständnis; aus der Verantwortung werden wir uns nicht nehmen.“
Zu diesen Vorhaben zählen die Bischöfe unter anderem ein „verbindliches überdiözesanes Monitoring für die Bereiche der Aufarbeitung, Intervention und Prävention“, standardisierte Personalakten von Klerikern sowie „die Fortentwicklung des Verfahrens zur materiellen Anerkennung erlittenen Leids“.
Der Jesuitenpater Klaus Mertes, der vor zehn Jahren Leiter des Canisius-kollegs war und die Aufklärung
ins Rollen brachte, betonte, durch das Bekanntwerden der Missbrauchsfälle habe sich die Kirche verändert. Es seien heute wieder Themen ansprechbar, die früher nicht ansprechbar gewesen seien, sagte Mertes im Deutschlandfunk. Zugleich sei innerhalb der Kirche eine Spaltung sichtbar geworden, unter der der Aufarbeitungsprozess leide. Er beklagte eine „reaktionäre Verweigerungsfront“bei einem Teil der Bischöfe, die sich den notwendigen systemischen Veränderungen in der Kirche nicht stellten.
Politik reagiert
Die Politik reagiert auf den Appell des Missbrauchsbeauftragten. Es sei ein unhaltbarer Zustand, dass sexueller Missbrauch zum Grundrisiko einer Kindheit in Deutschland gehöre, sagte die stellvertretende Vorsitzende der Unionsbundestagsfraktion, Nadine Schön (CDU), gestern in Berlin. Die Union unterstütze daher die Forderung des Missbrauchsbeauftragten, einen Pakt zu schmieden.
Es gebe noch viel zu tun, so Schön weiter. „So müssen wir auf Gefahren, die für Kinder im Internet lauern, schneller reagieren“, erklärte die Politikerin. Notwendig sei auch mehr Information und Unterstützung im Ehrenamt.
Die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Katrin Göring-eckardt, meinte, es sei nicht hinnehmbar, dass jeden Tag mehr als 50 Kinder und Jugendliche sexuelle Gewalt erführen. Rörig habe recht, wenn er der Politik ins Stammbuch schreibe, „dass wir handeln müssen“. Das betreffe Schulen und Kindertagesstätten, die Fortbildung der Fachkräfte, aber auch die Sicherheit in Sozialen Netzwerken. KNA