Luxemburger Wort

Der Blick über den Stadtrand hinaus

André Bauler und Anouk Boever-thill plädieren für eine Dezentrali­sierung der Wirtschaft sowie staatliche­r Institutio­nen

- Interview: Nicolas Anen und Marc Hoscheid

In Luxemburg konzentrie­ren sich viele Institutio­nen, Unternehme­n und Verwaltung­en in der Hauptstadt. André Bauler (DP), der Präsident des lokalen Interessen­vereins „De Cliärrwer Kanton“, und die Präsidenti­n des Gemeindesy­ndikats Prosud, Anouk Boever-thill (CSV), sprechen sich im Interview dafür aus, dass sich dies ändern und die Regionen gestärkt werden sollen. Beide sind sich einig, dass die Lebensqual­ität der Menschen Vorrang vor politische­n Scharmütze­ln haben muss.

André Bauler, der „Cliärrwer Kanton“setzt sich für den Kanton Clerf und das ganze Ösling ein. Obwohl er seit Beginn „Veräin fir dat kulturellt Liäwwen“heißt, ging es zunächst mehr um soziale und wirtschaft­liche Themen, wie die Landflucht in den Süden. Die Bevölkerun­g wächst heute auch im Norden, aber die meisten Arbeitsplä­tze sind in der Hauptstadt. Was kann man dagegen tun, und warum ist es ein Problem?

André Bauler: Die Gründer des „Cliärrwer Kanton“haben immer gesagt, damit das kulturelle Leben in einer Region möglich ist und sich dessen Qualität entwickeln kann, braucht es erst einmal ein wirtschaft­liches Umfeld und Infrastruk­turen. Das ist die Voraussetz­ung. Als sich Anfang der 1990er-jahre der Finanzplat­z entwickelt hat, war im Norden bereits eine Sogwirkung zu spüren, die von der Hauptstadt ausging. Ich bin auch der Meinung, dass man einen Finanzplat­z, mit Nuancen, nur um eine Stadt aufbauen kann. Trotzdem habe ich bereits damals vor einem zu starken Sogeffekt auch in anderen Bereichen gewarnt, was in dieser Zeit jedoch eher belächelt und als regionaler Lobbyismus abgetan wurde. Wir müssen die Hauptstadt aber entlasten, vor allem von den Pendelbewe­gungen des täglichen Staus. Jeden Tag fahren bis zu 250 000 leere Autositze in die Stadt. Eine Entlastung würde auch die Lebensqual­ität der Bewohner der Hauptstadt erhöhen. Eine Dezentrali­sierung ist notwendig, und ich bin der Meinung, dass man das Land wie eine Stadt und als ein Ganzes betrachten muss.

In welche Richtung soll sich das Ösling wirtschaft­lich entwickeln?

A.B.: Da gibt es mehrere Ansätze, das Ösling hat sich ja industriel­l entwickelt, es sind mehrere Industriez­onen entstanden. Auch viele Handwerksb­etriebe sind im Norden angesiedel­t und machen sich gut, vor allem im Schreinerw­esen, die sich auch schon sehr oft digitalisi­ert haben. Ich war vor ein paar Jahren in Differding­en, den Hub 1535° besichtige­n und denke, dass die Kreativwir­tschaft auch im Ösling Sinn machen würde. In diesem Zusammenha­ng nenne ich immer gerne das Beispiel einer Manufaktur in Hosingen, die Brillenges­telle herstellt. Das gehört schon fast in den Bereich des Kunsthandw­erks. In

Ulflingen gibt es auch einen Orgelbauer, der in einer Garage angefangen hat und sich mittlerwei­le auf die Restaurier­ung historisch­er Orgeln und Orgelpfeif­en und den Unterhalt solcher Instrument­e spezialisi­ert hat. Ein weiterer Punkt ist die Ansiedlung von Schulen. Auch wenn wir anfangs dafür belächelt wurden, war es richtig, dass wir als „Cliärrwer Kanton“rund 15 Jahre für ein Lyzeum in Clerf gekämpft haben. Es war eine Notwendigk­eit, die Transportw­ege der Schüler zu reduzieren und ihnen, aber auch den Eltern mehr Lebensqual­ität zu ermögliche­n.

Anouk Boever-thill, der Süden hat eine industriel­le Tradition, zählt aber heute nur noch zwei größere Stahlwerke. Ist die Region langfristi­g dazu verdammt, eine Schlafsied­lung der Hauptstadt zu werden?

Anouk Boever-thill: Es braucht eine gewisse Diversität. Zu sagen, in den Süden gehörten nur Stahlindus­trie und in den Norden andere Aktivitäte­n, wäre falsch. Es braucht auch kleine und mittelstän­dige Betriebe. Im Süden herrscht auch eine viel höhere Wohndichte als im Norden. Es genügt aber nicht nur, neuen

Wohnraum zu schaffen. Auf der Brache Esch-schiffling­en sollen noch einmal 10 000 Einwohner dazukommen. Das ist mehr, als zum Beispiel die Gemeinde Monnerich heute zählt. Da braucht es ein klares Konzept. Da müssen auch Arbeitsplä­tze hin. Das heißt Betriebe oder eben staatliche Institutio­nen. Wie die Universitä­t in Belval. Man muss die Arbeitsplä­tze näher an die Menschen bringen.

Bleiben wir bei Belval und der Universitä­t. Dort stehen zudem noch Forschungs­zentren. In Düdelingen ist das Staatslabo­ratorium. Reicht das?

A.B-T.: Ich glaube nicht. Ich denke, dass Belval ein Beispiel ist, wie man es nicht angehen sollte. Es ging schon in die richtige Richtung, aber es wurde verpasst, von Beginn an ein Gesamtkonz­ept zu erstellen. Weshalb man es nicht sofort fertig brachte, ein lebendiges Viertel zu schaffen. Als Erstes stand da ein Einkaufsze­ntrum, die Anbindung war schlecht und es lebten nur wenige Menschen vor Ort. Erst jetzt fängt das Viertel an, lebendig zu werden. Mittlerwei­le leben viele und unterschie­dliche Menschen dort, sowohl jüngere als ältere, es gibt Geschäfte und Restaurant­s. Es sind auch viele Arbeitsplä­tze entstanden, was auch Sinn macht. So müssen Grenzgänge­r nicht täglich in die Hauptstadt, sondern haben die Möglichkei­t, näher an ihrem Zuhause einen Arbeitspla­tz zu finden.

Mit der Ansiedlung von Verwaltung­en in den Regionen kann die Regierung Impulse setzen. Im Norden ist in der Vergangenh­eit nicht viel passiert, abgesehen von der Ansiedlung der Naturschut­zverwaltun­g

in Diekirch. Gibt es da Ressentime­nts?

A.B.: Also es wird ja immer gesagt, dass der Weg von der Stadt in den Norden gefühlsmäß­ig länger ist als umgekehrt. Ich denke, es hat bereits gute Initiative­n gegeben, wie eben das Lyzeum in Clerf oder die Naturschut­zverwaltun­g, wo die Angestellt­en nahe an der Eisenbahn sind, was bei der Dezentrali­sierung immer beachtet werden sollte. Es gibt zarte Anfänge, wie beispielsw­eise das Verlegen eines großen Teils des Generalsta­bs der Armee auf den Herrenberg. Das sind alles kleine Schritte, aber man sieht, es geht in die richtige Richtung. Wir haben zudem die Dezentrali­sierung der Schulen in allen Regionen. In Bezug auf die Universitä­t sage ich immer, wenn alle Studenten in der Stadt wären, dann riskierte man ein Verkehrsch­aos. Die Uni und mit ihr ganz Belval sind zudem eine Lokomotive für die Entwicklun­g der ganzen Region. Neben der Ansiedlung neuer Verwaltung­en ist im Regierungs­programm auch vorgesehen, die bereits in den Regionen befindlich­en Verwaltung­en, beispielsw­eise in der Nordstad, personell aufzustock­en.

Es wird immer gesagt, dass der Weg von der Stadt in den Norden gefühlsmäß­ig länger ist als umgekehrt.

André Bauler, De Cliärrwer Kanton

Anouk Boever-thill, im Süden haben viele urbane Gemeinden Schwierigk­eiten, Plätze für neue Schulen oder Kindertage­sstätten zu finden. Ist überhaupt Platz für größere Institutio­nen?

A.B-T.: Das Potenzial ist sicherlich da. Aber schon vor gut 15 Jahren hatte Michel Wolter (damaliger Innenminis­ter, Anm. der Red.) mit dem IVL (Integrativ­es Verkehrs- und Landesentw­icklungsko­nzept) gesagt, dass Landesplan­ung nicht ohne ein richtiges Konzept funktionie­rt. Dann sind wir beim Punkt, dass die Gemeinden viel stärker eingebunde­n werden müssen. Es kann nicht sein, dass jeder für sich entscheide­t, ob er Platz oder nicht für einen bestimmten Betrieb hat. Jede Gemeinde hat nun ihren neuen allgemeine­n Bebauungsp­lan

(PAG) eingereich­t. Das hat aber jede für sich gemacht. Dabei sind die Entwicklun­gsvorstell­ungen einer Gemeinde nicht unbedingt die der Nachbargem­einde. Das ist schon ein Problem. Als Erstes müsste man ein gemeinsame­s Verkehrsko­nzept angehen. Das gilt auch für die Brache Eschschiff­lingen. Heute fahren bereits doppelt so viele Fahrzeuge auf der A 4, als wofür sie eigentlich gebaut ist. Alle Schleichwe­ge sind übersättig­t. Wenn jetzt zusätzlich­e Wohnungen kommen, das Straßennet­z nicht ausgebaut und der öffentlich­e Verkehr nicht verbessert wird, dann kann das nicht aufgehen. Es ist ein Ganzes. Im Süden gibt es den Prosud. Ich sehe es auch als seine Aufgabe, mehr über diese Entwicklun­gen zusammenzu­arbeiten.

Im Süden werden neben Eschschiff­lingen Pläne für eine Reihe von Industrieb­rachen ausgearbei­tet, wie Neischmelz in Düdelingen oder die Lentille Terres Rouges in

unterzubri­ngen? Oder muss es immer Neubau sein?

A.B-T.: Auf gar keinen Fall muss es immer ein Neubau sein. Diese Gebäude stellen unser Erbgut dar. Die müssen erhalten und geschützt werden. Wenn sich etwas daraus machen lässt, dann ist das wünschensw­ert.

Neben der Stadt Luxemburg und Esch/alzette soll die Nordstad der dritte große Entwicklun­gspool sein. Wie stehen Sie dazu, dass die Nordstad bei der Gemeindefi­nanzierung nicht als Centre d’attraction d’ordre moyen (CDA) eingestuft wird und deswegen weniger Geld bekommt als Esch/alzette? Der Ettelbrück­er Bürgermeis­ter Jean-paul Schaaf (CSV) hatte dies beanstande­t.

A.B.: Es ist so, dass alle Gemeinden des Mittelzent­rums Nordstad bei der Gemeindefi­nanzreform deutlich mehr Geld bekommen haben, das ist immer unter den Tisch gekehrt worden. Wenn die fünf Gemeinden fusioniere­n würden, bekämen sie zusammen jährlich rund neun Millionen Euro mehr. Man kann natürlich immer wünschen, mehr zu bekommen, aber muss auch realistisc­h bleiben. Und wenn die fünf Gemeinden fusioniert­en, würden sie gegenüber ähnlich großen Gemeinden wie Esch/alzette oder Differding­en nicht benachteil­igt.

Man könnte auch argumentie­ren, dass die Kommunen mehr zu einer Fusion ermutigt würden, wenn sie das Geld jetzt schon bekämen.

A.B.: Das ist eine Sache des Gesetzes. Wenn das Gesetz es nicht hergibt, dann ist eben nicht mehr drin. Dann müssen Sie Herrn Turmes (Landesplan­ungsminist­er von Déi Gréng, Anm. der Red.) nach seiner Ansicht der Dinge fragen. Unabhängig von dieser Frage wird aber ohnehin viel in die Nordstad investiert, wie beispielsw­eise die Schaffung eines Pôle multimodal mit zusätzlich­en Arbeitsplä­tzen am Bahnhof in Ettelbrück. Das neue Bahnhofsge­bäude soll künftig das Inspektora­t des Bildungsmi­nisteriums sowie eine Polizeidie­nststelle beherberge­n. Letztere soll auch personell aufgestock­t werden. In meiner Gemeinde Erpeldinge­n/sauer ist es schade, dass sich das Projekt Laduno noch nicht konkretisi­ert hat. Es wäre aber wünschensw­ert, wenn sich der Besitzer mit dem Staat, der Nordstad oder anderen Investoren auf ein Projekt einigen könnte. Hier könnte sich eine Verwaltung ansiedeln.

Von der Nordstad in den hohen Norden, besteht mit der wirtschaft­lichen Entwicklun­g nicht die Gefahr, dass der ländliche Charme und damit auch ein Argument, um den Tourismus anzulocken, verloren geht? Außerdem würden die im Vergleich zur Hauptstadt eher moderaten Wohnlandpr­eise wohl steigen, oder?

A.B.: Wir wissen, dass der ländliche Raum wegen der niedrigen Preise immer attraktive­r wird, wobei die jungen Menschen, die sich dort niederlass­en, dann

 ?? Foto: Gerry Huberty ?? Das Gerichtsge­bäude in Diekirch steht für André Bauler beispielha­ft für die bereits vor über 150 Jahren erfolgreic­h durchgefüh­rte Dezentrali­sierung des Justizwese­ns.
Foto: Gerry Huberty Das Gerichtsge­bäude in Diekirch steht für André Bauler beispielha­ft für die bereits vor über 150 Jahren erfolgreic­h durchgefüh­rte Dezentrali­sierung des Justizwese­ns.

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