Der Blick über den Stadtrand hinaus
André Bauler und Anouk Boever-thill plädieren für eine Dezentralisierung der Wirtschaft sowie staatlicher Institutionen
In Luxemburg konzentrieren sich viele Institutionen, Unternehmen und Verwaltungen in der Hauptstadt. André Bauler (DP), der Präsident des lokalen Interessenvereins „De Cliärrwer Kanton“, und die Präsidentin des Gemeindesyndikats Prosud, Anouk Boever-thill (CSV), sprechen sich im Interview dafür aus, dass sich dies ändern und die Regionen gestärkt werden sollen. Beide sind sich einig, dass die Lebensqualität der Menschen Vorrang vor politischen Scharmützeln haben muss.
André Bauler, der „Cliärrwer Kanton“setzt sich für den Kanton Clerf und das ganze Ösling ein. Obwohl er seit Beginn „Veräin fir dat kulturellt Liäwwen“heißt, ging es zunächst mehr um soziale und wirtschaftliche Themen, wie die Landflucht in den Süden. Die Bevölkerung wächst heute auch im Norden, aber die meisten Arbeitsplätze sind in der Hauptstadt. Was kann man dagegen tun, und warum ist es ein Problem?
André Bauler: Die Gründer des „Cliärrwer Kanton“haben immer gesagt, damit das kulturelle Leben in einer Region möglich ist und sich dessen Qualität entwickeln kann, braucht es erst einmal ein wirtschaftliches Umfeld und Infrastrukturen. Das ist die Voraussetzung. Als sich Anfang der 1990er-jahre der Finanzplatz entwickelt hat, war im Norden bereits eine Sogwirkung zu spüren, die von der Hauptstadt ausging. Ich bin auch der Meinung, dass man einen Finanzplatz, mit Nuancen, nur um eine Stadt aufbauen kann. Trotzdem habe ich bereits damals vor einem zu starken Sogeffekt auch in anderen Bereichen gewarnt, was in dieser Zeit jedoch eher belächelt und als regionaler Lobbyismus abgetan wurde. Wir müssen die Hauptstadt aber entlasten, vor allem von den Pendelbewegungen des täglichen Staus. Jeden Tag fahren bis zu 250 000 leere Autositze in die Stadt. Eine Entlastung würde auch die Lebensqualität der Bewohner der Hauptstadt erhöhen. Eine Dezentralisierung ist notwendig, und ich bin der Meinung, dass man das Land wie eine Stadt und als ein Ganzes betrachten muss.
In welche Richtung soll sich das Ösling wirtschaftlich entwickeln?
A.B.: Da gibt es mehrere Ansätze, das Ösling hat sich ja industriell entwickelt, es sind mehrere Industriezonen entstanden. Auch viele Handwerksbetriebe sind im Norden angesiedelt und machen sich gut, vor allem im Schreinerwesen, die sich auch schon sehr oft digitalisiert haben. Ich war vor ein paar Jahren in Differdingen, den Hub 1535° besichtigen und denke, dass die Kreativwirtschaft auch im Ösling Sinn machen würde. In diesem Zusammenhang nenne ich immer gerne das Beispiel einer Manufaktur in Hosingen, die Brillengestelle herstellt. Das gehört schon fast in den Bereich des Kunsthandwerks. In
Ulflingen gibt es auch einen Orgelbauer, der in einer Garage angefangen hat und sich mittlerweile auf die Restaurierung historischer Orgeln und Orgelpfeifen und den Unterhalt solcher Instrumente spezialisiert hat. Ein weiterer Punkt ist die Ansiedlung von Schulen. Auch wenn wir anfangs dafür belächelt wurden, war es richtig, dass wir als „Cliärrwer Kanton“rund 15 Jahre für ein Lyzeum in Clerf gekämpft haben. Es war eine Notwendigkeit, die Transportwege der Schüler zu reduzieren und ihnen, aber auch den Eltern mehr Lebensqualität zu ermöglichen.
Anouk Boever-thill, der Süden hat eine industrielle Tradition, zählt aber heute nur noch zwei größere Stahlwerke. Ist die Region langfristig dazu verdammt, eine Schlafsiedlung der Hauptstadt zu werden?
Anouk Boever-thill: Es braucht eine gewisse Diversität. Zu sagen, in den Süden gehörten nur Stahlindustrie und in den Norden andere Aktivitäten, wäre falsch. Es braucht auch kleine und mittelständige Betriebe. Im Süden herrscht auch eine viel höhere Wohndichte als im Norden. Es genügt aber nicht nur, neuen
Wohnraum zu schaffen. Auf der Brache Esch-schifflingen sollen noch einmal 10 000 Einwohner dazukommen. Das ist mehr, als zum Beispiel die Gemeinde Monnerich heute zählt. Da braucht es ein klares Konzept. Da müssen auch Arbeitsplätze hin. Das heißt Betriebe oder eben staatliche Institutionen. Wie die Universität in Belval. Man muss die Arbeitsplätze näher an die Menschen bringen.
Bleiben wir bei Belval und der Universität. Dort stehen zudem noch Forschungszentren. In Düdelingen ist das Staatslaboratorium. Reicht das?
A.B-T.: Ich glaube nicht. Ich denke, dass Belval ein Beispiel ist, wie man es nicht angehen sollte. Es ging schon in die richtige Richtung, aber es wurde verpasst, von Beginn an ein Gesamtkonzept zu erstellen. Weshalb man es nicht sofort fertig brachte, ein lebendiges Viertel zu schaffen. Als Erstes stand da ein Einkaufszentrum, die Anbindung war schlecht und es lebten nur wenige Menschen vor Ort. Erst jetzt fängt das Viertel an, lebendig zu werden. Mittlerweile leben viele und unterschiedliche Menschen dort, sowohl jüngere als ältere, es gibt Geschäfte und Restaurants. Es sind auch viele Arbeitsplätze entstanden, was auch Sinn macht. So müssen Grenzgänger nicht täglich in die Hauptstadt, sondern haben die Möglichkeit, näher an ihrem Zuhause einen Arbeitsplatz zu finden.
Mit der Ansiedlung von Verwaltungen in den Regionen kann die Regierung Impulse setzen. Im Norden ist in der Vergangenheit nicht viel passiert, abgesehen von der Ansiedlung der Naturschutzverwaltung
in Diekirch. Gibt es da Ressentiments?
A.B.: Also es wird ja immer gesagt, dass der Weg von der Stadt in den Norden gefühlsmäßig länger ist als umgekehrt. Ich denke, es hat bereits gute Initiativen gegeben, wie eben das Lyzeum in Clerf oder die Naturschutzverwaltung, wo die Angestellten nahe an der Eisenbahn sind, was bei der Dezentralisierung immer beachtet werden sollte. Es gibt zarte Anfänge, wie beispielsweise das Verlegen eines großen Teils des Generalstabs der Armee auf den Herrenberg. Das sind alles kleine Schritte, aber man sieht, es geht in die richtige Richtung. Wir haben zudem die Dezentralisierung der Schulen in allen Regionen. In Bezug auf die Universität sage ich immer, wenn alle Studenten in der Stadt wären, dann riskierte man ein Verkehrschaos. Die Uni und mit ihr ganz Belval sind zudem eine Lokomotive für die Entwicklung der ganzen Region. Neben der Ansiedlung neuer Verwaltungen ist im Regierungsprogramm auch vorgesehen, die bereits in den Regionen befindlichen Verwaltungen, beispielsweise in der Nordstad, personell aufzustocken.
Es wird immer gesagt, dass der Weg von der Stadt in den Norden gefühlsmäßig länger ist als umgekehrt.
André Bauler, De Cliärrwer Kanton
Anouk Boever-thill, im Süden haben viele urbane Gemeinden Schwierigkeiten, Plätze für neue Schulen oder Kindertagesstätten zu finden. Ist überhaupt Platz für größere Institutionen?
A.B-T.: Das Potenzial ist sicherlich da. Aber schon vor gut 15 Jahren hatte Michel Wolter (damaliger Innenminister, Anm. der Red.) mit dem IVL (Integratives Verkehrs- und Landesentwicklungskonzept) gesagt, dass Landesplanung nicht ohne ein richtiges Konzept funktioniert. Dann sind wir beim Punkt, dass die Gemeinden viel stärker eingebunden werden müssen. Es kann nicht sein, dass jeder für sich entscheidet, ob er Platz oder nicht für einen bestimmten Betrieb hat. Jede Gemeinde hat nun ihren neuen allgemeinen Bebauungsplan
(PAG) eingereicht. Das hat aber jede für sich gemacht. Dabei sind die Entwicklungsvorstellungen einer Gemeinde nicht unbedingt die der Nachbargemeinde. Das ist schon ein Problem. Als Erstes müsste man ein gemeinsames Verkehrskonzept angehen. Das gilt auch für die Brache Eschschifflingen. Heute fahren bereits doppelt so viele Fahrzeuge auf der A 4, als wofür sie eigentlich gebaut ist. Alle Schleichwege sind übersättigt. Wenn jetzt zusätzliche Wohnungen kommen, das Straßennetz nicht ausgebaut und der öffentliche Verkehr nicht verbessert wird, dann kann das nicht aufgehen. Es ist ein Ganzes. Im Süden gibt es den Prosud. Ich sehe es auch als seine Aufgabe, mehr über diese Entwicklungen zusammenzuarbeiten.
Im Süden werden neben Eschschifflingen Pläne für eine Reihe von Industriebrachen ausgearbeitet, wie Neischmelz in Düdelingen oder die Lentille Terres Rouges in
unterzubringen? Oder muss es immer Neubau sein?
A.B-T.: Auf gar keinen Fall muss es immer ein Neubau sein. Diese Gebäude stellen unser Erbgut dar. Die müssen erhalten und geschützt werden. Wenn sich etwas daraus machen lässt, dann ist das wünschenswert.
Neben der Stadt Luxemburg und Esch/alzette soll die Nordstad der dritte große Entwicklungspool sein. Wie stehen Sie dazu, dass die Nordstad bei der Gemeindefinanzierung nicht als Centre d’attraction d’ordre moyen (CDA) eingestuft wird und deswegen weniger Geld bekommt als Esch/alzette? Der Ettelbrücker Bürgermeister Jean-paul Schaaf (CSV) hatte dies beanstandet.
A.B.: Es ist so, dass alle Gemeinden des Mittelzentrums Nordstad bei der Gemeindefinanzreform deutlich mehr Geld bekommen haben, das ist immer unter den Tisch gekehrt worden. Wenn die fünf Gemeinden fusionieren würden, bekämen sie zusammen jährlich rund neun Millionen Euro mehr. Man kann natürlich immer wünschen, mehr zu bekommen, aber muss auch realistisch bleiben. Und wenn die fünf Gemeinden fusionierten, würden sie gegenüber ähnlich großen Gemeinden wie Esch/alzette oder Differdingen nicht benachteiligt.
Man könnte auch argumentieren, dass die Kommunen mehr zu einer Fusion ermutigt würden, wenn sie das Geld jetzt schon bekämen.
A.B.: Das ist eine Sache des Gesetzes. Wenn das Gesetz es nicht hergibt, dann ist eben nicht mehr drin. Dann müssen Sie Herrn Turmes (Landesplanungsminister von Déi Gréng, Anm. der Red.) nach seiner Ansicht der Dinge fragen. Unabhängig von dieser Frage wird aber ohnehin viel in die Nordstad investiert, wie beispielsweise die Schaffung eines Pôle multimodal mit zusätzlichen Arbeitsplätzen am Bahnhof in Ettelbrück. Das neue Bahnhofsgebäude soll künftig das Inspektorat des Bildungsministeriums sowie eine Polizeidienststelle beherbergen. Letztere soll auch personell aufgestockt werden. In meiner Gemeinde Erpeldingen/sauer ist es schade, dass sich das Projekt Laduno noch nicht konkretisiert hat. Es wäre aber wünschenswert, wenn sich der Besitzer mit dem Staat, der Nordstad oder anderen Investoren auf ein Projekt einigen könnte. Hier könnte sich eine Verwaltung ansiedeln.
Von der Nordstad in den hohen Norden, besteht mit der wirtschaftlichen Entwicklung nicht die Gefahr, dass der ländliche Charme und damit auch ein Argument, um den Tourismus anzulocken, verloren geht? Außerdem würden die im Vergleich zur Hauptstadt eher moderaten Wohnlandpreise wohl steigen, oder?
A.B.: Wir wissen, dass der ländliche Raum wegen der niedrigen Preise immer attraktiver wird, wobei die jungen Menschen, die sich dort niederlassen, dann