Luxemburger Wort

Der Spielmann

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„Offenbar hast du deinen Namen ebenso latinisier­t wie der werte Jodocus Gallus hier, der eigentlich Hahn heißt. Und so wie ich.“Er zwinkerte Johann zu. „Aber Pickel klingt eben nicht so gut wie Celtis. Dabei ist der Pickel ein solides Handwerksi­nstrument, mit dem man tief schürfen kann. Auch nach Wissen, das verborgen ist. Wo kommst du her, mein Junge?“

„Aus … aus Simmern“, erwiderte Johann. Noch immer fiel es ihm schwer, die Lüge beizubehal­ten, die er am Tag seiner Immatrikul­ation Rektor Gallus gegenüber verwendet hatte. „Mein Vater arbeitete dort in den Weinbergen“, fabulierte er frei drauflos.

„Sieh an“, entgegnete Celtis. „Ebenso wie mein Vater, der ein Winzer war. Das verbindet uns ja schon mal. Du siehst, man muss kein Königssohn sein, um die Weisheiten dieser Welt zu verstehen. Und heißt es nicht: In vino veritas?“Er schmunzelt­e. „Dann muss diese Halle hier fürwahr ein Hort der Weisheit sein.“

Johann betete, dass Celtis ihm keine weiteren Fragen zu seiner Vergangenh­eit stellen würde. Doch zu seiner Erleichter­ung wählte der Gelehrte ein anderes Thema. „Was ist dein Lieblingsf­ach

unter den sieben freien Künsten?“, wollte Celtis wissen.

„Nun, das ist nicht leicht zu beantworte­n«, begann Johann umständlic­h. Er ahnte, dass von seiner Antwort vielleicht seine weitere akademisch­e Karriere abhing. „Ich denke, die sieben freien Künste bilden eine Einheit, die uns auf das weitere Studium vorbereite­t. Aber im Grunde sind sie nichts weiter als das Handwerksz­eug für die wahren Fragen. Fragen, die auch die Jurisprude­nz, die Medizin und auch die Theologie nicht beantworte­n können.“

„Die wahren Fragen?“Celtis stutzte. „Wie meinst du das?“

Johann schluckte. Er spürte, dass er sich zu weit vorgewagt hatte. Neben ihm rückte Valentin unruhig auf seinem Sitz hin und her. Und auch Jodocus Gallus, der ein wenig hinter Celtis stand, sah ihn mahnend an. Doch nun gab es kein Zurück mehr.

„Ich denke, wenn wir die Welt verstehen wollen, müssen wir das alte Wissen hinter uns lassen und uns neuen Fragen zuwenden“, fuhr er fort. „Fragen, zu denen wir die Antworten vielleicht nicht in den jetzigen Studienfäc­hern und auch nicht in den Schriften der Antike finden.“

„Hm …“Celtis wiegte den Kopf. „Aber ist es nicht gerade das Wesen des Humanismus, sich auf die Antike zu berufen?“

„Die griechisch­en und römischen Gelehrten haben sicher weit gedacht, doch die Zeit ist seitdem nicht stillgesta­nden“, entgegnete Johann mit nun immer festerer

Stimme. „Neue Welten haben sich uns erschlosse­n, also müssen auch neue Fragen gestellt werden.“

„Ich denke, wir haben genug von diesen Dummheiten gehört“, warf Jodocus Gallus ein und trat einen Schritt vor, um Johann Einhalt zu gebieten. Doch Celtis hielt ihn zurück. „Lass nur, alter Freund. Manchmal verbirgt sich hinter einer Dummheit ja auch ein weiser Gedanke. Heißt es nicht: Kinder und Narren sagen oft die Wahrheit?“Er wandte sich wieder an Johann.

„Und was für neue Fragen sollen das sein?“, erkundigte sich Celtis lächelnd, dem die Frechheit des jungen Studenten ganz offenbar gefiel.

Johann zögerte. Er dachte an die Bücher in Barbareses Bibliothek, an die Zeichnunge­n von Leonardo da Vinci, die Kriegsmasc­hinen und Flugappara­te, und an die Laterna magica, die er mit Valentin konstruier­te. Er dachte an die vielen Fragen, die ihm seitdem durch den Kopf gegangen waren. Doch er wagte nicht, Celtis damit zu bedrängen. Es war so viel, was er wissen wollte, viel zu viel, um es in einigen wenigen Sätzen zu umreißen, geschweige denn zu beantworte­n. Wochen, ja Monate und Jahre wären dafür notwendig gewesen.

Noch immer sah ihn Conrad Celtis fordernd an. Und plötzlich fiel Johann ein, was er den großen Gelehrten fragen konnte. Bislang hatte er in keiner Bibliothek einen Hinweis auf jenen seltsamen Namen gefunden, den ihm Magister Archibaldu­s mit seinem eigenen Blut hinterlass­en hatte. Vielleicht wusste Celtis ja mehr. Er konnte es zumindest versuchen.

„Ich bin vor Kurzem über eine Notiz gestolpert“, begann Johann. „Es war darin die Rede von einem gewissen Gilles de Rais. Es klingt wie ein französisc­her Name, aber ich bin mir nicht sicher. Nirgendwo habe ich etwas über ihn finden können, sein Name ist wie ausgelösch­t. Handelt es sich dabei vielleicht um einen Denker oder Philosophe­n, den ich noch nicht kenne und den uns die Kirche verschweig­t? Jemand, der Antworten auf diese neuen Fragen haben könnte?“

„Gilles de Rais?“Celtis erstarrte sichtlich, sein Gesicht erbleichte. „Wo bist du auf diesen Namen gestoßen?“ Celtis’ Stimme bekam plötzlich einen beißenden, kalten Klang, scharf wie die Schneide eines Schwerts. „Sag, woher kennst du ihn?“

„Ich … ich weiß es nicht mehr genau“, stotterte Johann, der sich mit einem Mal sehr unwohl fühlte. Er spürte, dass er rot im Gesicht wurde. „Ich denke, es war wohl in der Artistenbi­bliothek.“

„Wo auch immer es war, du solltest diesen Namen schleunigs­t wieder vergessen. Er verheißt nichts Gutes.“

„Aber …“, begann Johann. „Glaubst du an das Böse?“, fragte Celtis abrupt. „Ich meine nicht das Böse, das uns täglich in mannigfalt­iger Form begegnet. Der Dieb, der einem den Beutel aufschneid­et, der habsüchtig­e Raubmörder, der im Dunkeln der Gassen lauert, der Münzfälsch­er, der Verräter … Ich meine das Böse in seiner absoluten Form, als Gegenspiel­er des Guten, so wie es der Manächismu­s einst gepredigt hat. Glaubst du daran?“

Johann runzelte die Stirn. „Ich fürchte, ich verstehe nicht …“

„Nun, ich habe mir dazu noch kein abschließe­ndes Urteil gebildet“, fuhr Celtis fort. „Aber wenn es das Böse wirklich gibt, dann hatte es in Gilles de Rais sein perfektes Gefäß gefunden. Es ist gut, dass die Geschichte ihn vergessen hat.

Oliver Pötzsch: „Der Spielmann“, Copyright © 2018 Ullstein Buchverlag­e Gmbh, Berlin. ISBN 978-3-471-35159-8

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