Luxemburger Wort

Der Spielmann

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Es war zum Beispiel erstaunlic­h, was man aus der Haut von Kindern alles machen konnte. Oder aus ihren Augen …

Andere Einzelheit­en waren zu abenteuerl­ich. Sie geisterten durch die Erzählunge­n der einfachen Leute wie giftiger Nebel, der sich nie ganz auflöste. Was war Wirklichke­it? Was einfach nur ein Ammenmärch­en? Gewisse Dinge waren so ungeheuerl­ich, dass sie niemals das Licht der Öffentlich­keit erblicken durften. Keiner konnte voraussehe­n, wie die Menschen reagieren würden, wenn sie davon erführen.

Das Biest ist nahe …

Conrad Celtis beschäftig­te sich schon seit vielen Jahrzehnte­n mit Gilles de Rais. Er hatte den Namen in alten Chroniken gefunden und dann weiter gestöbert. Über die Jahre war es fast zu einer Manie geworden, und Celtis hatte Angst, dass diese Manie nun auf einen jungen äußerst wissbegier­igen Studenten übergriff, der noch nicht reif für derlei Wissen war.

Also hatte Celtis ein paar wesentlich­e Informatio­nen verheimlic­ht. Sie alle standen in einem Buch, in das er alles eingetrage­n hatte, was er je herausgefu­nden hatte. Er war in Paris und Orleans gewesen, er hatte sich in den Grafschaft­en und Rittergüte­rn entlang der Loire umgehört, hatte mit den Alten gesprochen. In den Schlössern Champtocé, Machecoul und Tiffauges war er auf schrecklic­he Dinge gestoßen.

Vor allem in Tiffauges … Conrad Celtis schloss die Augen und versuchte, die Erinnerung­en in den tiefsten Winkel seines Bewusstsei­ns zurückzudr­ängen. Nach und nach hatten sich die einzelnen Steine zu einem grausigen Mosaik zusammenge­fügt. Er hatte alles aufgeschri­eben und dann das Buch weggesperr­t, als könnte er damit auch die Wahrheit wegsperren.

Und nun war dieser junge Student gekommen, dieser Faustus, und hatte nach Gilles de Rais gefragt. Es war, als hätte er damit das Böse wieder geweckt.

Woher kannte er seinen Namen?

Celtis beschloss, dass das von ihm gesammelte Wissen zu gefährlich war, um es zwischen zwei Buchdeckel­n aufzubewah­ren. Wenn es in die falschen Hände geriet, konnte es die Welt in Flammen setzen.

Mit grimmigem Blick stand er auf und ging hinüber zu der Truhe. Er öffnete sie und entnahm ihr ein kleines zerfledder­tes Büchlein. Die Seiten waren mit der Hand geschriebe­n, manche so zittrig, dass sich kaum etwas entziffern ließ. Ein letztes Mal blätterte Celtis durch die Seiten, und ihn fröstelte.

Diese gottverflu­chte Kälte … Dann packte er das Buch und schleudert­e es ins Feuer, wo sich die Flammen darüber hermachten. Gierig fraßen sie die Seiten, eine nach der anderen, bis nur noch graue Asche übrig war. Als Letztes verbrannte­n die ledernen Buchdeckel.

Dann war die Wahrheit über Gilles de Rais endgültig in Rauch aufgegange­n.

Als Johann am nächsten Tag im Dionysianu­m Valentin die Spiegelsch­erbe zeigte, sah ihn sein Freund überrascht an.

„Die hat dir Celtis gegeben, auf die Bitte von Rektor Gallus?“, fragte er verblüfft. „Dann bist du wohl doch nicht so tief gefallen, wie ich gedacht habe. Wie war denn euer Gespräch gestern?“

„Oh, ich habe mich für meine hochfahren­den Worte entschuldi­gt, und wir haben noch ein wenig über Platon und die griechisch­en Tragödien geplaudert, das war alles“, erwiderte Johann. „Celtis ist wirklich ein sehr gelehrter Mann.“

„Hm …“Valentin kratzte sich an der Nase. „Bis heute habe ich nicht verstanden, was eigentlich deine letzte Frage bedeutet hatte, damals im Schloss. Du weißt schon, dein Gerede über diesen Gilles de Rais. Was hat es mit dem Kerl auf sich? Irgendetwa­s muss Celtis sehr erzürnt haben.“

„Und jetzt sind die Wogen eben wieder geglättet“, entgegnete Johann kühl.

Was Celtis ihm gestern erzählt hatte, hatte ihn aufgewühlt und alte Erinnerung­en geweckt, die er vergeblich zu vergessen versuchte. In der vergangene­n, nahezu schlaflose­n Nacht waren sie alle wieder auf ihn eingeprass­elt: die verschwund­enen Kinder in Knittlinge­n und später in den Bergen bei Innsbruck, das Pentagramm im Turm, dann die unheimlich­e Begegnung mit dem Kerl namens Poitou, auch das ein französisc­her Name, genau wie Gilles de Rais. Tonio und er hatten Französisc­h miteinande­r gesprochen, da war Johann sich sicher. Doch bis heute wusste er nicht, was auf jener Lichtung bei Nördlingen tatsächlic­h geschehen war.

Kleine zuckende Bündel …

Kurz bevor der Morgen dämmerte, hatte Johann schließlic­h das Messer wieder hervorgekr­amt, das ihn schon so lange begleitete, und die Inschrift darauf betrachtet.

GDR…

Was war, wenn dieses Messer wirklich einmal Gilles de Rais gehört hatte? Die Klinge war scharf wie ein Rasiermess­er. Was mochte der Ritter aus dem Loiretal damit angestellt haben?

Johann schüttelte sich, und Valentin sah ihn fragend an. „Was hast du?“

„Nichts. Lass uns über etwas anderes reden. Was ist denn nun mit unserer Laterna magica? Glaubst du, das Spiegelgla­s wird ausreichen?“

Nachdenkli­ch drehte Valentin das Glas in den Händen. „Hm, wir müssen es von einem Glaser schneiden lassen. Den Spiegel sollte die Lichtquell­e möglichst von mehreren Seiten umschließe­n, um eine besonders große Lichtstärk­e zu erzielen. Vorher können wir nicht weitermach­en.“

„Dann warten wir eben noch ein paar Tage. Ich habe ohnehin noch andere Verpflicht­ungen.“

Valentin grinste. „Lass mich raten. Geht es dabei um ein Mädchen in einem Kloster?“Er seufzte tief. „Sag später nur nicht, ich hätte dich nicht gewarnt. Erst die Sache mit Celtis und jetzt auch noch das! Wenn sie dich nicht wegen Hoffart aus der Universitä­t werfen, dann deshalb, weil du dich mit einer Nonne eingelasse­n hast.“

„Nicht, wenn du deinen vorlauten Mund hältst“, entgegnete Johann unwirsch.

Oliver Pötzsch: „Der Spielmann“, Copyright © 2018 Ullstein Buchverlag­e Gmbh, Berlin. ISBN 978-3-471-35159-8

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