Auf Messers Schneide
Jeder Fünfte in Luxemburg lebt in Angst, mit seinem Einkommen nicht über die Runden zu kommen. Die Politik ist sich nicht genügend bewusst, was das für die Menschen bedeutet.
Dass die Politik sich eingehend mit dem Thema Armut auseinandersetzt, ist eher selten. Heute haben die Abgeordneten die Gelegenheit, im Rahmen einer Interpellation – angefragt vom Csv-abgeordneten Paul Galles – ihre Sicht der Lage und ihre Vorschläge zur Armutsbekämpfung vorzutragen.
2018 waren in Luxemburg 18,3 Prozent der Bevölkerung armutsgefährdet. Die Armutsgrenze für eine Einzelperson lag bei 2 013 Euro im Monat, für eine vierköpfige Familie mit zwei Kindern unter 14 Jahren bei 4 228 Euro. Viele bezweifeln, dass Luxemburg ein Armutsproblem hat. Schließlich hat das Großherzogtum eines der besten Sozialsysteme Europas und greift den Menschen mit viel Geld unter die Arme.
Niemand muss hungern oder frieren Stimmt das? Wird genug getan, um die Menschen vor Armut zu schützen? „Diese Frage kann ich weder mit Ja noch mit Nein beantworten“, sagt Andreas Vogt, Direktor von Caritas Accueil et Solidarité. „In Notsituationen sind die Grundbedürfnisse, also Essen und Schlafen, mit den vorhandenen Strukturen für fast alle Menschen korrekt abgedeckt“, findet Vogt, „mit einigen Ausnahmen im Gesundheitssystem“.
Niemand muss also frieren, draußen schlafen oder Hunger leiden. Aber reicht das, um behaupten zu können, Luxemburg habe kein Armutsproblem? Richtiggehend arm im Sinne von materiell arm sind nur wenige. Aber das Risiko, in die Armut abzurutschen, ist hoch. Das beunruhigt Andreas Vogt. „Wenn diesen Menschen das Geringste passiert, sitzen sie schnell auf der Straße. Sie sind ständig in Gefahr. Die Politik ist sich nicht genügend bewusst, was es bedeutet, mit diesem Risiko zu leben. Es bedeutet, dass über einem ständig das Damoklesschwert schwebt. Wenn es zu einer Trennung kommt oder sonst ein Schicksalsschlag passiert, haben die Menschen keine finanziellen Kapazitäten, um das aufzufangen“, erklärt Vogt.
Das Risiko hat sich inzwischen auch auf Menschen ausgeweitet, „denen es finanziell nicht ganz so schlecht geht“. Die Caritas wird immer öfter von „besser gestellten“Familien um eine Wohnung gebeten, „weil sie Probleme haben, ihre Miete zu zahlen“.
Bei der Stëmm vun der Strooss gehen immer mehr „Neuarme“ein und aus: Menschen, die arbeiten, aber nicht über die Runden kommen. Alleinerziehende Mütter, die im Reinigungssektor arbeiten. Und immer öfter auch Taxifahrer, die in der Mittagspause vorfahren, um bei der Stëmm zu Mittag zu essen. „Viele sind überschuldet, haben zur Monatsmitte kein Geld mehr“, erzählt die Direktorin, Alexandra Oxacelay. Das Profil ihrer „Kundschaft“habe sich gewandelt. Den traditionellen „Strummert“gebe es immer weniger. „Die gehen jetzt
mängelt der Koordinator der Wanteraktioun, Kevin Oestreicher, von Inter-actions. Ähnlich sieht es auch Andreas Vogt. „Wir müssen präventiv gegen Obdachlosigkeit vorgehen“, ist er überzeugt. „Wir brauchen spezialisierte Angebote für verschiedene Zielgruppen.“Strukturen für ehemalige Häftlinge, für ältere Menschen, die jahrelang auf der Straße gelebt, ein Suchtproblem haben und deswegen von keinem Altenoder Pflegeheim aufgenommen werden. Strukturen für junge Menschen, die familiäre Konflikte und vielleicht die Schule abgebrochen haben und suchtabhängig sind. „Sie landen häufig im Foyer Ulysse. Dort können sie essen und schlafen, aber wir haben dort nicht die Zeit, sie spezialisiert zu begleiten und langfristige Lösungen mit ihnen auszuarbeiten“, erklärt Vogt.
Zeit dürfe keine Bedingung sein. „Wir haben es mit Menschen zu tun, die sehr schwach sind und den Druck nicht aushalten, wenn man ihnen sagt, dass sie nach sechs oder zwölf Monaten wieder ausziehen müssen“, sagt Vogt. „Wir brauchen für diese Menschen unbefristete Wohnlösungen. Das ist das Konzept des Housing first.“
Die von der Regierung auf den Weg gebrachte Strategie gegen Obdachlosigkeit und Ausgrenzung aufgrund von Wohnungslosigkeit hält Andreas Vogt für wenig erfolgreich. Er kann keine wirkliche Strategie erkennen. Es gebe isolierte Initiativen von Vereinigungen, die vom Staat getragen werden, „aber keinen nationalen Plan und keine Definition, welche Zielgruppen ein Anrecht auf Housing first haben“.
Grafik auf www.wort.lu