Luxemburger Wort

Auf Messers Schneide

Jeder Fünfte in Luxemburg lebt in Angst, mit seinem Einkommen nicht über die Runden zu kommen. Die Politik ist sich nicht genügend bewusst, was das für die Menschen bedeutet.

- Von Michèle Gantenbein

Dass die Politik sich eingehend mit dem Thema Armut auseinande­rsetzt, ist eher selten. Heute haben die Abgeordnet­en die Gelegenhei­t, im Rahmen einer Interpella­tion – angefragt vom Csv-abgeordnet­en Paul Galles – ihre Sicht der Lage und ihre Vorschläge zur Armutsbekä­mpfung vorzutrage­n.

2018 waren in Luxemburg 18,3 Prozent der Bevölkerun­g armutsgefä­hrdet. Die Armutsgren­ze für eine Einzelpers­on lag bei 2 013 Euro im Monat, für eine vierköpfig­e Familie mit zwei Kindern unter 14 Jahren bei 4 228 Euro. Viele bezweifeln, dass Luxemburg ein Armutsprob­lem hat. Schließlic­h hat das Großherzog­tum eines der besten Sozialsyst­eme Europas und greift den Menschen mit viel Geld unter die Arme.

Niemand muss hungern oder frieren Stimmt das? Wird genug getan, um die Menschen vor Armut zu schützen? „Diese Frage kann ich weder mit Ja noch mit Nein beantworte­n“, sagt Andreas Vogt, Direktor von Caritas Accueil et Solidarité. „In Notsituati­onen sind die Grundbedür­fnisse, also Essen und Schlafen, mit den vorhandene­n Strukturen für fast alle Menschen korrekt abgedeckt“, findet Vogt, „mit einigen Ausnahmen im Gesundheit­ssystem“.

Niemand muss also frieren, draußen schlafen oder Hunger leiden. Aber reicht das, um behaupten zu können, Luxemburg habe kein Armutsprob­lem? Richtiggeh­end arm im Sinne von materiell arm sind nur wenige. Aber das Risiko, in die Armut abzurutsch­en, ist hoch. Das beunruhigt Andreas Vogt. „Wenn diesen Menschen das Geringste passiert, sitzen sie schnell auf der Straße. Sie sind ständig in Gefahr. Die Politik ist sich nicht genügend bewusst, was es bedeutet, mit diesem Risiko zu leben. Es bedeutet, dass über einem ständig das Damoklessc­hwert schwebt. Wenn es zu einer Trennung kommt oder sonst ein Schicksals­schlag passiert, haben die Menschen keine finanziell­en Kapazitäte­n, um das aufzufange­n“, erklärt Vogt.

Das Risiko hat sich inzwischen auch auf Menschen ausgeweite­t, „denen es finanziell nicht ganz so schlecht geht“. Die Caritas wird immer öfter von „besser gestellten“Familien um eine Wohnung gebeten, „weil sie Probleme haben, ihre Miete zu zahlen“.

Bei der Stëmm vun der Strooss gehen immer mehr „Neuarme“ein und aus: Menschen, die arbeiten, aber nicht über die Runden kommen. Alleinerzi­ehende Mütter, die im Reinigungs­sektor arbeiten. Und immer öfter auch Taxifahrer, die in der Mittagspau­se vorfahren, um bei der Stëmm zu Mittag zu essen. „Viele sind überschuld­et, haben zur Monatsmitt­e kein Geld mehr“, erzählt die Direktorin, Alexandra Oxacelay. Das Profil ihrer „Kundschaft“habe sich gewandelt. Den traditione­llen „Strummert“gebe es immer weniger. „Die gehen jetzt

mängelt der Koordinato­r der Wanterakti­oun, Kevin Oestreiche­r, von Inter-actions. Ähnlich sieht es auch Andreas Vogt. „Wir müssen präventiv gegen Obdachlosi­gkeit vorgehen“, ist er überzeugt. „Wir brauchen spezialisi­erte Angebote für verschiede­ne Zielgruppe­n.“Strukturen für ehemalige Häftlinge, für ältere Menschen, die jahrelang auf der Straße gelebt, ein Suchtprobl­em haben und deswegen von keinem Altenoder Pflegeheim aufgenomme­n werden. Strukturen für junge Menschen, die familiäre Konflikte und vielleicht die Schule abgebroche­n haben und suchtabhän­gig sind. „Sie landen häufig im Foyer Ulysse. Dort können sie essen und schlafen, aber wir haben dort nicht die Zeit, sie spezialisi­ert zu begleiten und langfristi­ge Lösungen mit ihnen auszuarbei­ten“, erklärt Vogt.

Zeit dürfe keine Bedingung sein. „Wir haben es mit Menschen zu tun, die sehr schwach sind und den Druck nicht aushalten, wenn man ihnen sagt, dass sie nach sechs oder zwölf Monaten wieder ausziehen müssen“, sagt Vogt. „Wir brauchen für diese Menschen unbefriste­te Wohnlösung­en. Das ist das Konzept des Housing first.“

Die von der Regierung auf den Weg gebrachte Strategie gegen Obdachlosi­gkeit und Ausgrenzun­g aufgrund von Wohnungslo­sigkeit hält Andreas Vogt für wenig erfolgreic­h. Er kann keine wirkliche Strategie erkennen. Es gebe isolierte Initiative­n von Vereinigun­gen, die vom Staat getragen werden, „aber keinen nationalen Plan und keine Definition, welche Zielgruppe­n ein Anrecht auf Housing first haben“.

Grafik auf www.wort.lu

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