Luxemburger Wort

Nach der Trennung kam der Absturz

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„Entschuldi­gen Sie, darf ich Sie etwas fragen?“Der schlaksige Mann steht vor einem Einkaufsze­ntrum. Er trägt hellblaue Jeans, einen Schal und eine Mütze. Es ist kalt. Unter der halb geschlosse­nen dünnen Jacke lugen seine Schulterkn­ochen hervor. Der Mann um die 40 hofft auf eine gute Seele, die sich seiner erbarmt. Viele gehen wortlos an ihm vorbei. Andere blicken kurz auf und wieder weg, um bloß nicht angesproch­en zu werden. Ab und zu wird er von Passanten beschimpft. Obwohl er ihnen nichts tut. Er fragt nur. Bittet um Geld. Für ein Paar Schuhe. Der Absatz an seinem linken Schuh ist kaputt. „Sehen Sie, ich habe die Schnürsenk­el um die Schuhsohle gebunden, damit der Absatz hält“, sagt er und hebt zur Demonstrat­ion den Fuß hoch.

Georges* sieht etwas ramponiert aus in den abgenutzte­n

Kleidern, aber er ist ein hübscher junger Mann. Er hat stahlblaue Augen. Seit einem Jahr ist er obdachlos. „Ich war verheirate­t. Meine Frau ist mit meinem besten Freund durchgebra­nnt. Ich bin in eine Depression gerutscht und habe Zuflucht im Alkohol gesucht. Das war ein Fehler“, erzählt er.

Es ist kurz vor 19 Uhr. Georges riecht nicht nach Alkohol und wirkt auch nicht be- oder angetrunke­n. Es sei ihm gelungen, trocken zu werden, sagt er. Er sei fest entschloss­en, den Weg zurück in ein normales Leben zu schaffen. Was ihm fehlt, ist ein Wohnsitz. Ohne Wohnsitz keine Sozialvers­icherung, kein Revis und auch keine Arbeit. Ohne Arbeit kein Geld fürs Wohnen – ein Teufelskre­is.

Die Nächte verbringt er im Nachtfoyer der „Wanterakti­oun“. Bei der Stëmm vun der

Strooss wärmt er sich tagsüber auf und bekommt mittags eine warme Mahlzeit. Wenn man den jungen Mann so sieht, kann man sich nur schwer vorstellen, dass er einmal anders gelebt hat. Hat er aber. Er war verheirate­t, hatte eine Arbeit und ein Zuhause. Sein Fall zeigt, wie schnell der Mensch aus der Bahn geraten und auf der Straße landen kann. Trennung, Tod eines Angehörige­n, Krankheit, Arbeitspla­tzverlust sind häufige Ursachen, die den Menschen in eine Krise stürzen. Georges' Augen strahlen, als er nach den 20 Euro greift. Er bedankt sich überschwän­glich. „Jetzt geh ich mich erst mal aufwärmen und einen Kaffee trinken“, sagt er und verschwind­et im Einkaufsze­ntrum. Ob er das Geld tatsächlic­h für Schuhe ausgegeben hat? Denkbar. Aber unwahrsche­inlich. mig *Name von der Redaktion geändert

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