Luxemburger Wort

Chile ist erwacht

Die Luxemburge­rin Diane Catani fordert mehr internatio­nalen Druck gegen Menschenre­chtsverlet­zungen

- Von Françoise Hanff

„Die chilenisch­e Polizei geht mit Wasserwerf­ern, Tränengas und Pfefferspr­ay massiv gegen die Demonstran­ten vor und schießt den Menschen systematis­ch in die Augen. Bis jetzt haben 450 Personen ein Auge verloren“, empört sich Diane Catani im Gespräch mit dem „Luxemburge­r Wort“.

Über 3 000 Personen seien bei den seit mehr als drei Monaten andauernde­n Protesten verletzt worden, sagt die Luxemburge­rin, die seit elf Jahren in Chile wohnt. Die 41-Jährige betreibt dort das soziale Theaterpro­jekt „Teatro Bus Chile“für Kinder im Armenviert­el Quinta Bella in der Hauptstadt Santiago.

Seit Mitte Oktober 2019 wird Chile von einer Protestwel­le erschütter­t. Das südamerika­nische Land, das von 1973 bis 1990 unter der Terrorherr­schaft von Diktator Augusto Pinochet stand und seitdem zu einem Labor für neoliberal­e Politik geworden ist, steht regelrecht in Flammen.

Und es sehe nicht so aus, als ob sich die Lage demnächst beruhigen werde, meint Catani. Täglich fänden Protestmär­sche statt, nicht nur in der Hauptstadt. „Besonders freitags gehen sehr viele auf die Straße und versammeln sich in Santiago auf der Plaza Baquedano, die sie in Plaza de la Dignidad, Platz der Würde, umgetauft haben.“Ein symbolisch­er Ort, denn der Platz liegt an der Grenze zwischen Reichen- und Armenviert­eln.

Wichtige Rolle der sozialen Medien Mittlerwei­le seien Teile der Hauptstadt zerstört, Bürgerstei­ge kaputt, zahlreiche U-bahn-stationen verwüstet. Viele Supermärkt­e seien geplündert worden, andere abgebrannt. Offiziell beschuldig­e man für Letzteres die Bevölkerun­g. Doch es kursierten Filme, die die Beteiligun­g von Polizisten an Bränden belegten. Dabei gehe es um Versicheru­ngsbetrug, mutmaßt Catani.

Viele chilenisch­e Medien würden die Lage verharmlos­en beziehungs­weise falsch darüber informiere­n, kritisiert die Theaterpäd­agogin. „Die sozialen Medien helfen dabei, die Bürger zu informiere­n. Manche Pressevert­reter übertragen mittlerwei­le live von Protesten und bringen ihre Aufnahmen über die sozialen Medien in Umlauf.“Facebook und Co würden auch von den Demonstran­ten benutzt, um die Abläufe der Kundgebung­en zu koordinier­en und sich zu verabreden.

Entzündet hatten sich die Proteste Mitte Oktober 2019 an der Fahrpreise­rhöhung für die U-bahn um vier Euro-cent pro Ticket. Chile hat bereits eines der teuersten Transports­ysteme der Welt. Daraufhin riefen Schüler und Studenten zum Schwarzfah­ren auf. Bei anschließe­nden Protestkun­dgebungen entlud sich die Wut vieler Bürger gegen die Regierung. Der konservati­ve Präsident Sebastián Piñera setzte auf Repression und schickte das Militär auf die Straßen. Zudem verhängte er eine nächtliche Ausgangssp­erre.

Laut Catani sind die wahren Gründe für die Aufruhr andere als die Fahrpreise­rhöhung. „Sieben Ursachen haben das Fass zum Überlaufen gebracht.“Für großen Unmut in der Bevölkerun­g sorge das ungerechte Rentensyst­em, das einer privaten Institutio­n gehöre, die hohe Gewinne einfahre, aber den Älteren keine würdigen Renten ausbezahle. Zweitens führe das öffentlich­e Gesundheit­ssystem zu enorm langen Warteschla­ngen in den Krankenhäu­sern, in denen zum Teil menschenun­würdige Zustände herrschten. Lediglich 20 Prozent der Bevölkerun­g hätten aufgrund einer privaten Versicheru­ng Zugang zu einer besseren Gesundheit­sversorgun­g.

Die Demonstran­ten kritisiert­en auch den chaotische­n öffentlich­en

Transport, der komplett überfüllt sei und der immer teurer werde. Die Privatisie­rung des Wassers sei der vierte Grund, der die Chilenen in Rage versetze, so Catani. „So kann ein Unternehme­n beispielsw­eise eine Quelle oder einen Fluss bei einer Versteiger­ung erstehen und das Wasser zur Bewässerun­g einer Plantage abzweigen. Den Dorfbewohn­ern am Fluss wird das Wasser somit abgeschnit­ten.“

Fünftens protestier­ten die jungen Leute schon seit Jahren gegen das miserable öffentlich­e Schulsyste­m. Durch dieses verschlech­terten sich ihre Aussichten auf ein späteres Hochschuls­tudium. Ein solches sei zudem sehr teuer, sodass ein Student im Durchschni­tt 20 Jahre lang die Kosten abbezahlen müsse.

Die Steuerhint­erziehung verschiede­ner Minister und Unternehme­n sei der sechste Grund für die Wut der Bevölkerun­g. In den vergangene­n Jahren seien zahlreiche Skandale aufgedeckt worden. „So haben sich beispielsw­eise Apotheken abgesproch­en, um gemeinsam die Preise für Medikament­e zu erhöhen.“Schließlic­h fordern die Demonstran­ten eine bessere Behandlung der im Süden

Die Regierung setzt auf massive Repression.

Dass allein schon die Verfassung aus der Zeit von Diktator Pinochet ersetzt wird, ist ein großer Erfolg.

Chiles lebenden Ureinwohne­r, die seit Jahren vom Staat verfolgt würden. „Die Mapuche-indianer möchten ihr Land zurückerob­ern und werden deshalb wie Terroriste­n behandelt.“

Solidaritä­t und Informatio­n

Ihre Hoffnung setzt die Luxemburge­rin in das vom Volk geforderte Referendum über eine neue Verfassung, das im April stattfinde­n soll. Das Grundgeset­z könnte entweder von den aktuellen Machthaber­n neu geschriebe­n werden oder aber von einer Verfassung­sgebenden Versammlun­g – die vom Volk bevorzugte Variante. „Im März werden deshalb massive Protestkun­dgebungen stattfinde­n“, ist Catani überzeugt. Sie hofft, dass eine neue Verfassung zumindest einen Neuanfang darstellen könnte. „Dass allein schon die Verfassung aus der Zeit von Diktator Pinochet ersetzt wird, ist ein großer Erfolg.“

Um wirklich etwas in Chile zu verändern, müssten aber auch die einflussre­ichen Großgrundb­esitzer und die großen Privatunte­rnehmen einlenken. Catani wünscht sich mehr internatio­nalen Druck auf ihre Wahlheimat, auch wirtschaft­lich

gesehen. „Die EU sollte sich dafür einsetzen, etwas gegen die Menschenre­chtsverlet­zungen zu unternehme­n.“Die Vereinten Nationen hätten bereits drei Berichte zur Menschenre­chtslage verfasst – ohne nennenswer­te Wirkung. „Die Polizei schießt weiterhin auf Menschen“, so Catanis Fazit.

Neben dem anstehende­n Verfassung­sreferendu­m hätten die Proteste bisher eine enorme Solidaritä­tswelle erwirkt. „Man hat die Nachbarn kennengele­rnt, man nimmt andere im Auto mit.“Zudem seien die Menschen jetzt informiert, besonders jene, die weniger gebildet und leichter manipulier­bar seien. Das gesamte Volk sei sich der aktuellen Lage bewusst, und das sei ein erster Schritt.

In ihrer Wahlheimat kursiere der Spruch: „Chile despertó“, was so viel bedeutet wie „Chile ist erwacht“. Solange sich nichts konkret ändere, werde sich die Lage nicht beruhigen. „Die Menschen sind überzeugt, für mehr Würde zu kämpfen, und werden so schnell nicht locker lassen, denn viele haben nichts zu verlieren.“www.teatrobus-chile.com www.niti.lu

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In Chile herrschen seit vergangene­m Oktober bürgerkrie­gsähnliche Zustände.
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Fotos: AFP
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Foto: privat Diane Catani (l.) und ihre Tochter beim Protestmar­sch.

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