Luxemburger Wort

„Riesiges Durcheinan­der“

Abschlussb­ericht zum historisch­en Geheimdien­starchiv liegt vor

- Von Dani Schumacher

„Wir haben ein Jahr gebraucht, um zumindest ansatzweis­e eine Logik zu erkennen. Es herrscht ein riesiges Durcheinan­der.“Mit diesen Worten beschrieb der Historiker Jean Reitz gestern den Zustand der Altbeständ­e des Geheimdien­starchivs. Er und seine Kollegin Nadine Geisler waren mit einer wahren Sisyphusar­beit konfrontie­rt, als sie die Dokumente aus den Jahren 1960 bis 2000 durchforst­en, zuordnen und auswerten sollten.

Zu einer vollständi­gen historisch­en Auswertung, so wie es die Enquêtekom­mission 2013 gefordert hatte, ist es aber nicht mehr gekommen. Die Zeit war einfach zu knapp bemessen. In dem Gesetz vom 23. Juli 2016, das die Basis für die Untersuchu­ng liefert, waren nämlich nur zwei Jahre (2017-2019) für den Forschungs­auftrag vorgesehen. Der wahre Umfang des Materials, das im Zuge der Geheimdien­staffäre auf Betreiben der Untersuchu­ngskommiss­ion zunächst konfiszier­t und anschließe­nd im Nationalar­chiv untergebra­cht worden war, war damals offensicht­lich unterschät­zt worden.

Und weil die Fülle des Materials in der Kürze der Zeit nicht wissenscha­ftlich ausgewerte­t werden konnte, haben sich die Forscher zunächst auf eine Bestandsau­fnahme beschränkt. Insgesamt haben Geisler und Jeitz 116 438 Dokumente in den Archiven des Service de renseignem­ent de l’etat (SREL) gefunden, weitere 21 591 stammen aus den Beständen der Autorité nationale de sécurité (ANS). 6 438 Srel-einträge beziehen sich auf luxemburgi­sche Bürger oder Firmen.

Mammutaufg­abe

Allein das Sortieren der Dokumente war eine Mammutaufg­abe. Die Unterlagen lagen nämlich zerstreut an unterschie­dlichen Stellen des Archivs. Zudem gibt es die klassische­n Papierakte­n, es gibt aber auch Mikrofilme und Mikrofiche­s.

Zusätzlich erschwert wurde die Aufgabe, weil auch noch das sogenannte Back-up aus dem Senninger Schloss untersucht werden musste. All dies führte dazu, dass von einigen Dokumenten nur Originale existieren, bei anderen gibt es nur Kopien, andere wiederum liegen sowohl als Original als auch als Kopie vor.

Ein ähnliches Durcheinan­der stellten die beiden Historiker auch bei den betroffene­n Personen fest. Einige tauchen beispielsw­eise mehrmals auf, etwa, wenn Frauen sowohl unter ihrem Mädchennam­en als auch unter dem Namen ihres Ehemanns geführt werden, oder wenn Vereinigun­gen sowohl unter vollem Namen als auch unter dem Kürzel aufgeliste­t sind.

Hintergrun­d: Kalter Krieg

Die Einträge erfolgten in der Hauptsache vor dem Hintergrun­d des Kalten Krieges. Meistens geht es denn auch um Menschen, Organisati­onen oder Unternehme­n, die Kontakte zu dem ehemaligen Ostblock hatten. Ins Visier des Geheimdien­stes geriet man damals schnell. Aufgeliste­t sind beispielsw­eise Personen aus Ostblocklä­ndern, die ein Visum für Luxemburg beantragt hatten. Natürlich haben die Mitarbeite­r auch die Führungsri­ege der Kommunisti­schen Partei sowie deren Mitglieder und Sympathisa­nten unter die Lupe genommen. Später kamen auch andere Gruppierun­gen am linken Parteiensp­ektrum wie etwa die Ligue communiste révolution­naire (LCR) hinzu.

Untersuchu­ngen im Zusammenha­ng mit dem Terrorismu­s rückten erst ab den 1970er-jahren ins Blickfeld des Geheimdien­stes, so Jeitz. Auslöser waren die Anschläge der Baader-meinhof-bande, der IRA oder der palästinen­sischen Gruppierun­gen. Zur rechten Szene finden sich keine Einträge, auch deshalb, weil diese zum damaligen Zeitpunkt in Luxemburg offensicht­lich keine Rolle spielte, so die beiden Historiker.

Keine Dokumente zum Bommeleeër Auf Nachfrage bestätigte­n sie auch, dass sie keine Unterlagen gefunden haben, die mit dem Fall Bommeleeër in Zusammenha­ng gebracht werden könnten. Zum Netzwerk Stay-behind findet sich allerdings einiges Material.

Weil eine vollständi­ge Aufarbeitu­ng des alten Geheimdien­starchivs in nur zwei Jahren nicht möglich war, würden sich Nadine Geisler und Jean Reitz natürlich freuen, wenn ihre Arbeit weitergehe­n könnte. Doch, bevor dies möglich sein wird, ist erst einmal die Politik am Drücker.

Premiermin­ister Xavier Bettel (DP) und die Vorsitzend­e des Geheimdien­stkontroll­ausschusse­s, Martine Hansen (CSV), die gestern bei der Vorstellun­g des Abschlussb­erichts im Parlament dabei waren, sind sich bewusst, dass noch Handlungsb­edarf besteht. Wie genau es weitergehe­n soll, ist allerdings noch nicht klar. Darüber sollen die Mitglieder der Geheimdien­stkontroll­und der Verfassung­skommissio­n erst einmal beraten. Sollte der Auftrag verlängert werden, muss zunächst die gesetzlich­e Basis geschaffen werden.

Geisler und Reitz haben aber noch einen anderen Wunsch: Die Dokumente dürfen unter keinen Umständen zerstört werden, denn sie bieten die Möglichkei­t, einen anderen Blick auf die Geschichte des Landes zu werfen. Am meisten würden sie es begrüßen, wenn die Dokumente erst einmal digitalisi­ert würden, damit sie anschließe­nd nach einer Prioritäte­nliste abgearbeit­et werden können.

Wir haben ein Jahr gebraucht, um zumindest ansatzweis­e eine Logik zu erkennen. Jean Reitz, Historiker

 ?? Foto: CHD ?? Die Historiker Nadine Geisler und Jean Reitz haben zwei Jahre lang die Altbeständ­e des Geheimdien­starchivs untersucht. Gestern haben sie ihren Abschlussb­ericht vorgestell­t.
Foto: CHD Die Historiker Nadine Geisler und Jean Reitz haben zwei Jahre lang die Altbeständ­e des Geheimdien­starchivs untersucht. Gestern haben sie ihren Abschlussb­ericht vorgestell­t.

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