Mehr als ein blaues Auge
Nach knapp 25 Stunden im Amt gibt Thüringens Ministerpräsident von Afd-gnaden auf – Berlin aber bebt weiter
So sieht ein Verlierer aus. Kaum anders als am Vortag, als er sich noch als Gewinner fühlte. Das Sakko sitzt weiter lässig, der Hemdkragen ist wieder offen, die Miene vielleicht eine Spur ernster. Nur der Text ist ein anderer. Exakt 24 Stunden und 48 Minuten nachdem Thüringens neuer Ministerpräsident Thomas Kemmerich (FDP) im Erfurter Landtag gesagt hat, „ich nehme die Wahl an“, erklärt er nun, in der Staatskanzlei, „der Rücktritt ist unumgänglich“. Zu nicht einmal einem ganzen normalen Arbeitstag im Amtssitz der Thüringer Ministerpräsidenten hat Kemmerich es gebracht. Deutscher Rekord. Allerdings: Schon das ist für viele und für manches zu viel gewesen.
Denn Kemmerich – einer von fünf Fdp-parlamentariern im 90 Abgeordnete zählenden Landtag – ist nur durch die AFD ins Amt gekommen. Ob deren Chef Björn Höcke, Anführer der Völkischnationalen, ihn als nützlichen Naiven benutzt hat – oder ob Kemmerich die Unterstützung wissentlich akzeptierte: bislang Spekulation. In Thüringen jedenfalls löst die Wahl erst einen Schock und dann Schockwellen aus – und die lassen binnen Stunden erst die deutsche Hauptstadt erbeben und schließlich sogar Südafrika. Dort ist Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) auf Staatsbesuch. Und sie bricht die eherne Regel, dass Innenpolitik aus dem Ausland nicht kommentiert wird. Am Vormittag nennt Merkel Kemmerichs Wahl „unverzeihlich“– und befindet, dass „das Ergebnis rückgängig gemacht werden muss“. Für die CDU gelte, „dass sie sich nicht an einer Regierung unter diesem Ministerpräsidenten beteiligen darf“. Das ist eine klare Ansage in Richtung Thüringen. Und mehr, als Merkel noch zusteht. Denn Cdu-vorsitzende ist ja schon längst nicht mehr sie, sondern Annegret Kramp-karrenbauer.
GAU für AKK
Die hat am Vorabend – indirekt – zugeben müssen, dass ihr die Thüringer Parteifreunde, wie man so sagt, auf der Nase herumtanzen: „Ausdrücklich gegen die Empfehlungen, Forderungen und Bitten der Bundespartei“hätten sie Kemmerich gewählt. AKK will Kanzlerin werden – und kriegt noch nicht einmal einen kleinen Landesverband unter Kontrolle. Ein GAU. Tatsache ist, dass AKK seit der Thüringen-wahl im Oktober mit dem obersten dortigen Christdemokraten im Clinch ist. Mike Mohring hatte noch am Wahlabend den Wahlsiegern – dem damaligen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow und seinen Linken – Gespräche angeboten. AKK hatte ihm das unter Verweis auf einen Parteitagsbeschluss, der jede Zusammenarbeit mit AFD wie Linken ausschließt, verboten. Seitdem ist die Thüringer CDU orientierungslos. Das liegt vor allem an Mohring, der endlich auch ein Stück Macht abhaben will. Und an seiner Fraktion, in der manche durchaus ein Faible für das Verbotene haben, links wie rechts. Aber an
AKK liegt es auch.
Ähnlich wie der
Cdu-chefin ergeht es
Christian Lindner. Der Fdp-vorsitzende hat vorgestern versucht, sich mit dem Verweis, die Thüringer handelten „in eigener Verantwortung“aus der
Affäre zu ziehen. Andere in seiner Partei aber twittern „man lässt sich nicht von @Afd-faschisten wählen. Wenn es doch passiert, nimmt man die Wahl nicht an“– und fordern sehr rasch Kemmerichs Rücktritt. Und weil das Spitzenleute sind und viele aus seinem Landesverband NRW, stellt sich die Frage, wen Lindner noch hinter sich hat. Und zusätzlich die gleiche wie bei AKK: Hat er die FDP noch im Griff?
Lindners Gesinnungswandel
Es gibt, am späteren Vormittag, eine Antwort – auch indirekt. Lindner fährt nach Erfurt. Die Affäre also ist inzwischen zu groß, um sie telefonisch zu klären. Und während Lindner in Thüringen mit Kemmerich konferiert, der im
Frühstücksfernsehen jeden Gedanken an Rücktritt oder Neuwahl scharf zurückweist, lassen die Schockwellen in Berlin auch noch die Groko erzittern. Obwohl bereits eine Zusammenkunft ihrer Spitzen für morgen vereinbart ist, legt Spd-generalsekretär Lars Klingbeil nach – und fordert von Kramp-karrenbauer „eine grundsätzliche Kurskorrektur“. Denn, rügt er: „Die Union war bislang ein Partner im Kampf gegen Rechts – und das ist sie nicht mehr.“Als Unionist ja auch betroffen, hat CSU-CHEF Markus Söder nach der Wahl gegrollt, die CDU riskiere ihre Glaubwürdigkeit. Der FDP hat er hingeätzt: „Dass jemand mit fünf Prozent zum Ministerpräsidenten wird, zeigt, dass auf dieser ganzen Aktion kein Segen liegen wird.“
Über Nacht beginnt auch Lindner das ähnlich zu sehen. In Berlin stehen so viele Demonstranten vor der Parteizentrale wie bislang nur, als Jürgen Möllemann mit Antisemitismus Wahlkampf machte. Lindner beginnt zu begreifen, dass er es – wie AKK – in Thüringen zu lang hat laufen lassen. Bis FDP und CDU dort zu weit gegangen sind.
Keine 25 Stunden nach seiner Wahl geht Kemmerich. Vorerst nur vor die Mikros. Wann genau er sein Amt abgibt, verrät er nicht. Später sagt Lindner – an anderem Ort –, Kemmerich sei sich „über die Situation sehr im Klaren“gewesen. Er selbst hat für heute die Parteispitze nach Berlin gerufen. Er will ihr „die Vertrauensfrage stellen“. Keine vier Kilometer entfernt tagt AKK mit dem Cdu-präsidium. Wie Lindner ist auch sie gestern noch nach Erfurt geeilt, abends. Ob auch AKK ihr Führungsteam um Vertrauen bitten will – oder muss, ist noch nicht heraus. Auch nicht, ob die Thüringer rasch einen neuen Landtag wählen werden. Sicher ist allein, wie blau das Auge ist, das CDU und FDP sich geholt haben. Und dass das noch ihr geringster Schaden ist.
Tabubruch sagen die einen, demokratisch gewählt sagen die anderen. Man kann es auch schlichtweg als geschichtsvergessen bezeichnen. Ausgerechnet in Thüringen, wo Björn Höcke den rechtesten Parteiverband der rechtspopulistischen AFD anführt. Höcke – übrigens selbst gelernter Historiker – verdreht und verleugnet systematisch die historischen Tatsachen und Fakten – der bewusste Tabubruch als politisches Stilmittel, um Aufmerksamkeit zu erhaschen. Dass gerade er nun zum zeitweiligen „Königsmacher“avancierte, ist ein schlechter Treppenwitz der Geschichte. Offenbart aber zugleich, dass viele Mitglieder von CDU und FDP geschichtsvergessen sind. Nun gab der Fdp-politiker Kemmerich dem übermächtig gewordenen Druck zwar am Ende nach. Aber der bundespolitische Scherbenhaufen ist bereits angerichtet. Die Büchse der Pandora geöffnet. Koalitionen mit der AFD. Ja oder nein? Dabei zeigt sich, dass sowohl in der CDU als auch in der FDP in dieser Frage leider kein Konsens mehr besteht. Auch wenn Merkel deutliche Worte wählt. Hans-georg Maaßen, Wortführer der Konservativen in der CDU, lässt grüßen. Er hat bereits mehrmals offen mit einer Koalition mit der AFD geliebäugelt – Ausdruck der parteiinternen Zerrissenheit innerhalb der CDU. Die Erfurter Wahlfarce ist aber letztlich auch die Quittung für die fehlgeschlagene Strategie der Berliner Cduzentrale, auf keinen Fall der Linken mit Ministerpräsident Bodo Ramelow zur Wiederwahl zu verhelfen. Das hat sie zwar verhindert, aber zu welchem Preis? Und der FDP-CHEF Christian Lindner vollzieht am Tag danach die Rolle rückwärts. Mit der Vertrauensfrage will er heute die Parteigenossen zur Räson bringen. So oder so, das Image und die Glaubwürdigkeit des liberalen Strahlemanns sind angekratzt. Der verspätete Gesinnungswandel bleibt auch an ihm haften. Man fühlt sich erinnert an Lindners eigene Worte, als er nach der letzten Bundestagswahl die Verhandlungen für eine Jamaika-koalition platzen ließ. Zitat: „Besser nicht regieren, als falsch regieren.“Ein wahres Wort.