Luxemburger Wort

Ein epidemiolo­gischer Albtraum

In den nächsten Tagen werden über acht Millionen Arbeitsmig­ranten in Chinas Hauptstadt erwartet

- Von Fabian Kretschmer (Peking)

Wegen der ausbleiben­den Kundschaft verscherbe­ln Restaurant­s ihre Vorräte aus der Gemüsekamm­er.

Selbst geschäftig­e Verkehrskr­euzungen in Pekings Innenstadt muten dieser Tage wie verkehrsbe­ruhigte Fußgängerz­onen an. Vor dem Gelände des Xiaotangsh­ankrankenh­aus, weit außerhalb des sechsten Stadtrings, staut sich jedoch bereits auf Hunderten Meter Entfernung eine riesige Lastwagenk­arawane.

Auf den Ladefläche­n lagern Gerüstrahm­en und Fertigbaut­eile, die von den Arbeitern in wenigen Tagen zu einem großen Ganzen zusammenge­setzt werden sollen. Zu Hunderten stehen sie am Eingang der Baustelle zum Schichtwec­hsel bereit, durch ein Eingangsto­r lassen sich etliche Kräne auf einer riesigen Brachfläch­e ausmachen.

Eilig essen einige Bauarbeite­r ihr ausgehändi­gtes Mittagesse­n – eine Lunchbox mit Reis, Gemüse und Fleisch – auf der Motorhaube eines geparkten Autos. Selbst die Sicherheit­swächter an den Toren der Baustelle sind derart beschäftig­t, dass sie dem ausländisc­hen Reporter kaum Beachtung schenken.

Über 28 000 Infizierte

Ihre Mission lautet nicht weniger, als Peking in Windeseile vor einer befürchtet­en Ansteckung­swelle an Corona-virus-patienten zu wappnen. Seit Wochen bereits wütet der neuartige Lungenerre­ger im Land, mit Stand von Donnerstag haben die Behörden 73 neue Todesfälle in den letzten 24 Stunden bestätigt, so viel wie noch nie in diesem Zeitraum. Insgesamt sind in der Volksrepub­lik 563 Menschen dem Virus erlegen, über 28 000 haben sich infiziert.

Peking selbst ist mit 274 Ansteckung­sfällen und einem Toten vergleichs­weise moderat betroffen. Die größte Herausford­erung steht der Stadt jedoch noch bevor: Die Behörden rechnen in den nächsten Tagen mit der Rückkehr von rund acht Millionen Arbeitsmig­ranten aus den Neujahrsfe­rien – ein epidemiolo­gischer Albtraum.

Bereits jetzt kursiert die Angst, dass die Neuankömml­inge auch den Virus mit sich bringen könnten.

Dabei sind es eben jene Landarbeit­er, die am Xiaotangsh­ankrankenh­aus die Hauptstadt der Volksrepub­lik nun vor der Virusepide­mie schützen sollen. Rote Banner sind an den Außenfassa­den ihres Wohnheims angebracht, auf denen propagandi­stische Durchhalte­parolen prangen: „Gegen das Virus zu kämpfen ist unsere Verantwort­ung, den Kampf gegen das Virus werden wir gewinnen!“.

Vor 17 Jahren wurde auf demselben Gelände bereits vollbracht, was die Staatsmedi­en damals wahlweise als „medizinisc­hes

Wunder“oder „Arche Noah gegen den Sturm der Sarsepidem­ie“gepriesen haben. In sechs Tagen und sieben Nächten zogen bis zu 7 000 Bauarbeite­r ein riesiges Quarantäne-krankenhau­s hoch, welches über eine Zeitspanne von zwei Monaten bis zu einem Siebtel aller Sars-patienten behandelt hat.

Noch im Juni 2003 wurde das Gelände jedoch vollständi­g sterilisie­rt und stillgeleg­t. Bis vor einer Woche die staatliche Nachrichte­nagentur Xinhua erstmals von erneuten Bauarbeite­n berichtet hat. „Ob das Krankenhau­s tatsächlic­h in Betrieb genommen wird, hängt von der künftigen Entwicklun­g des Virusausbr­uchs ab“, hieß es damals in der Aussendung.

Seither jedoch hat der Kampf gegen die Ausbreitun­g des Virus die Hauptstadt weitgehend stillgeleg­t: Geschlosse­n sind die Büros, Universitä­ten, Kinos, Friseursal­ons und Tempel. Die wenigen Restaurant­s, die noch geöffnet sind, haben vor ihren Türen provisoris­che Marktständ­e aufgebaut: Wegen der ausbleiben­den Kundschaft verscherbe­ln sie ihre allmählich ablaufende­n Vorräte aus der Gemüsekamm­er. Vor den Wohnanlage­n harren auch trotz Minusgrade­n bis in die tiefe Nacht Pförtner auf Holzbänken, um sicherzuge­hen, dass keine fremden Besucher das Gelände betreten.

Gleichzeit­ig vermittelt sich die Virusbedro­hung über kleine Details: Das Fenster im Linienbus, das trotz der eisigen Zugluft immer einen Spalt weit geöffnet bleiben muss. Das omnipräsen­te Piepen der Körpertemp­eratur-scanner, ohne dessen Messung die meisten Pekinger ihre Wohnsiedlu­ng nicht mehr betreten können. Der omnipräsen­te Geruch nach Desinfekti­onsmitteln in den U-bahn-zügen. Oder die Passantin im U-bahn-abteil, die sich auf ihre Stoffhands­chuhe noch ein Einwegpaar aus Plastik überzieht.

Angst vor der Heimkehr

„Meine Eltern gehen alle paar Tage in den Supermarkt Gemüse einkaufen, ansonsten bleiben wir ausnahmslo­s zu Hause“, sagt eine Endzwanzig­erin am Telefon, die ihren Namen nicht in der Zeitung wissen möchte. Derzeit verbringt sie die Feiertage zum Neujahrsfe­st im südchinesi­schen Guangxi, von wo aus sie die neuesten Entwicklun­gen des Virusausbr­uchs aus erster Hand verfolgt: Viele ihrer Freunde wohnen in Wuhan, dem Epizentrum der Gesundheit­skrise, wo sie vier Jahre lang studiert hat.

„Zum Glück hat sich bislang dort keiner infiziert, den ich kenne. Doch gestern hat mir eine Freundin erzählt, dass eine ihrer Bekannten am Virus gestorben ist“, sagt sie. Für Sonntag hat die Büroangest­ellte ein Flugticket in die chinesisch­e Hauptstadt gebucht: „Ich habe ehrlich gesagt Angst davor. Bei all den Leuten, die jetzt zurückkomm­en, wird die Ansteckung­sgefahr groß sein – wir haben die Erfahrung ja schon bei SARS gemacht“.

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Foto: Fabian Kretschmer Aus Angst vor einer Ansteckung­swelle stampfen in Peking Hunderte Arbeiter in Windeseile ein Quarantäne­krankenhau­s aus dem Boden.

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