Der Spielmann
Es waren stets nur kurze Begegnungen, ein paar herzliche Worte, eine Berührung, ein Kuss … Doch Johann spürte, dass Margarethe sich mehr und mehr auf ihn einließ. Auch ihre Bemerkungen über den Schwarzen Mann und die Rückkehr Satans wurden seltener, wenn sie auch nicht ganz damit aufhörte.
Ein paarmal hatte Johann auch versucht, von Margarethe mehr zu bekommen als nur einen Kuss, aber jedes Mal war sie ihm lächelnd ausgewichen.
„Ich bin Gott versprochen“, sagte sie, wenn sie, verborgen hinter Ährenbündeln und Heuwagen, nebeneinander auf einem abgeernteten Kornfeld lagen. „Wenn das Kloster es will, lege ich im nächsten Jahr mein Ordensgelübde ab. Doch schon jetzt als Novizin gehöre ich Gott.“
„Ich habe mit Gott im Gebet geredet“, beteuerte Johann. „Er will nur, dass wir beide glücklich sind!“
„Sind wir das nicht?“, fragte Margarethe.
Tatsächlich war Johann glücklich. Margarethe war in seiner Nähe, er studierte an der großartigsten Universität im Deutschen Reich, und seine Aussichten auf eine akademische Karriere waren glänzend. Die meisten Studenten hatten nach und nach ihre Späße und Rüpeleien ihm gegenüber eingestellt. Außer Valentin hatte Johann zwar nach wie vor keinen echten Freund an der Universität, dafür war er zu ehrgeizig, zu hochmütig und unnahbar. Doch Rektor Gallus und einige andere Doktoren und Magister standen auf seiner Seite. Dazu kam, dass er sich jetzt regelmäßig mit Conrad Celtis im Heidelberger Schloss traf, wo er mit ihm angeregte Gespräche führte, auch über neuere Erfindungen, die in Heidelberg von sich reden machten.
„In Venedig sollen sie jetzt für den Glockenturm am Markusplatz eine Uhr planen, die mit einem Glockenschlag den Beginn und das Ende eines Arbeitstages ankündigt“, sagte Johann, als sie wieder einmal in Celtis’ kleiner düsterer Kammer saßen. „Bislang sind die Menschen dem Lauf der Sonne gefolgt. Man könnte fast meinen, das übernehmen jetzt die Uhren.“
Celtis nickte. „Wie ich hörte, gibt es neuerdings Apparate, die nicht nur die Stunden, sondern sogar die Minuten und Sekunden messen. Sekunden! Nicht mehr als ein Wimpernschlag!“Er rollte theatralisch mit den Augen. »Die Zeit rennt, und wir rennen mit. Wo soll das nur hinführen?“
„Ihr müsst bedenken, was für Vorteile es mit sich bringt, wenn es überall eine einheitliche Zeit gibt“, warf Johann ein. „Kaufleute können sich leichter treffen, die Arbeit bekommt einen Wert, gemessen an der Zahl der Stunden …“
Celtis lachte. „Nun, die beste Zeit ist immer noch die, die einfach so dahinfliegt, ohne dass wir bemerken, wie sie vergeht. Ich gebe zu, dass die Gespräche mit dir diesem Gefühl sehr nahekommen. Sie sind, nun ja …“Er schmunzelte. „… äußerst erfrischend. Auf den Mund gefallen ist der junge Herr Student jedenfalls nicht.“
Über Gilles de Rais sprachen sie kein einziges Mal, und tatsächlich gelang es Johann, diesen Namen und alles, was damit in Verbindung stand, weitgehend zu vergessen.
Nur bei der Laterna magica erlitten Johann und Valentin einen bösen Rückschlag. Es war im nebligen November, als der Spiegel endlich eingebaut und das Gehäuse fertig war. Sie schlossen die Fensterläden im Schuppen und entzündeten im Inneren des Gehäuses
die Öllampe. Mit zitternden Fingern schob Valentin eine der mit Tieren bemalten Glasplatten in den dafür vorgesehenen Schlitz. Doch alles, was auf der Wand des Schuppens erschien, war ein undeutlicher, wabernder Schemen.
„Verdammt!“, schimpfte Valentin und ruckelte ungeduldig an der Glasplatte. „Die Lichtquelle ist viel zu schwach. So viel Arbeit haben wir in den Apparat gesteckt, und jetzt das!“
„Ich glaube nicht, dass es nur an der Lichtquelle liegt“, bemerkte Johann stirnrunzelnd. „Das Licht strahlt viel zu diffus, zu sehr in alle Richtungen.“
„Du kannst Licht eben nicht einfangen wie eine Herde scheuer Pferde“, spottete Valentin. „Sobald es irgendwo austreten kann, geht es dorthin, wo es will. Wenn ich doch bloß nicht diese Zeichnungen von Fontana entdeckt hätte! Was für eine Verschwendung!“Er wollte dem Apparat, der auf dem Tisch im Schuppen stand, bereits einen Stoß versetzen, aber Johann hielt ihn zurück.
„Wir geben noch nicht auf“, mahnte er. »Vielleicht finden wir doch noch einen Weg, das Licht besser zu fokussieren.“
„Bitte, bitte“, höhnte Valentin. „Was dem großen Giovanni Fontana und auch Leonardo da Vinci nicht gelungen ist, gelingt sicher dem ach so berühmten Doktor Faustus.“
„Wer weiß, vielleicht wird man mich irgendwann wirklich so nennen“, murmelte Johann. Ihm schwirrte eine vage Idee durch den Kopf, aber immer, wenn er sie festhalten wollte, entglitt sie ihm wieder.
Vor Hans Altmayer war Johann weiterhin auf der Hut, denn er hatte den Eindruck, dass der Kerl irgendetwas ausbrütete. Oft, wenn sie sich begegneten, grinste Altmayer breit, legte den Finger ans Barett und deutete eine Verbeugung an.
„Sieh an, der von den Doktoren so hochverehrte Herr Faustus“, feixte er. „Warte nur, wer hoch steigt, der kann auch tief fallen.“
„Und wer niemals hinaufsteigt, bleibt immer in der stinkenden Gosse liegen“, gab Johann zurück und ließ Altmayer stehen.
Es war ausgerechnet in einer Vorlesung über das archimedische Prinzip bei Rektor Gallus, als Johann sein persönliches Heureka-erlebnis hatte.
Mittlerweile war der Winter über Heidelberg gekommen. Der Schnee lag hoch in den Gassen und machte das Vorankommen schwer. In den Vorlesungssälen war es so kalt, dass die Studenten in Mänteln und Mützen bibbernd auf ihren Bänken saßen. Nun verstand Johann auch, warum die Barette über gepolsterte Ohrenklappen verfügten. Die kleinen Öfen reichten beileibe nicht aus, die großen Räume zu beheizen.
Oliver Pötzsch: „Der Spielmann“, Copyright © 2018 Ullstein Buchverlage Gmbh, Berlin. ISBN 978-3-471-35159-8