Luxemburger Wort

Die unendliche Affäre

Mike Mohring geht, Christian Lindner bleibt, AKK spielt auf Zeit – Nur die Thüringer werden nicht so wichtig genommen

- Von Cornelie Barthelme (Berlin)

Ja, es gibt da diesen Brief. Adressat ist Thomas Kemmerich gewesen, der bis Mittwoch starke Mann der Thüringer FDP. Dann war Kemmerich knapp 25 Stunden Ministerpr­äsident des 2,1-Millionene­inwohner-bundesland­s. Seitdem ist er Ministerpr­äsident i. R. Nicht im Ruhestand. Im Rücktritt. Die am Mittwoch um vier vor halb zwei schlagarti­g außer Dienst gesetzte, aber informell weiter existieren­de rot-rot-grüne Erfurter Koalition hat Kemmerich (FDP) eine Vollzugsfr­ist gesetzt. „Eine Aussage bis Ende Sonntag“, fordern Linke, SPD und Grüne am Donnerstag­abend.

Es ist ein Zeitpunkt, an dem sich infolge der Wahl-affäre längst die Thüringer und die Bundespoli­tik verschränk­t und verhakt und verwickelt haben – und mit ihnen wiederum nicht nur die Schicksale diverser Thüringer Politiker, sondern auch und ganz besonders die von Cdu-chefin Annegret Kramp-karrenbaue­r und von Fdpvorsitz­endem Christian Lindner. Mindestens für sein Schicksal ist der Brief nicht ganz unbedeuten­d.

Denn am 1. November 2019, fünf Tage nach der Landtagswa­hl, schrieb der Afd-landes- und Fraktionsv­orsitzende Björn Höcke seinem Kollegen Kemmerich von der FDP, es sei ja nun „eine noch nie da gewesene politische Lage vorzufinde­n“. Deshalb – und weil CDU wie FDP mit der AFD nicht offiziell koalieren wollten – „biete ich Ihnen an, gemeinsam über neue Formen der Zusammenar­beit ins Gespräch zu kommen“. Und dann beschrieb Höcke unter anderem

Mir war nicht klar, dass die CDU nahezu geschlosse­n für den Fdp-kandidaten stimmen würde. FDP-CHEF Christian Lindner

„eine von meiner Partei unterstütz­e [sic!] Minderheit­sregierung“. Abschließe­nd kündigte der völkisch-nationale Anführer der Rechtsradi­kalen noch an, eine Kopie der Offerte dem Cdu-landesund Fraktionsc­hef Mike Mohring zuzustelle­n.

Lindners Erklärungs­versuche

Für Lindner ist dieser Brief deshalb wichtig, weil Kemmerich drei Monate und fünf Tage danach zum ersten Ministerpr­äsidenten Deutschlan­ds von Afd-gnaden wurde. Weil das nicht nur Thüringen, sondern die ganze Republik erbeben lässt. Und weil Lindner seitdem sagt, damit habe er nicht rechnen können. „Zu keinem Zeitpunkt“, erklärt er am Donnerstag­nachmittag in Erfurt, „hat man mir oder der Fdp-parteiführ­ung den Eindruck vermittelt, mit dieser Kandidatur bestehe eine ernst zu nehmende Erfolgsaus­sicht.“

„Man“muss Lindners Bezeichnun­g für Kemmerich sein. Ihn hat er in den Stunden zuvor zum Rücktritt vom eben angenommen­en Amt – ja, was? Genötigt? Oder sogar gezwungen? Es kursiert die – nicht einmal von Lindners engem Vertrauten Marco Buschmann dementiert­e – Version, Lindner habe mit seinem eigenen Rückzug drohen müssen. Sagt Lindner die Wahrheit, muss er den Brief nicht gekannt haben – und darf sich von Kemmerich getäuscht fühlen. Allerdings hat Cdu-chefin Annegret Krampkarre­nbauer öffentlich erklärt, sie habe Lindner gewarnt, dass die AFD Kemmerich wählen könnte.

Und am Freitagnac­hmittag gibt Lindner öffentlich zu: „Ja, sie hat mir eine SMS geschriebe­n.“Kemmerichs Kandidatur darin „brandgefäh­rlich“genannt. Aber: „Mir war nicht klar, dass die CDU nahezu geschlosse­n für den Fdpkandida­ten

stimmen würde.“Und Lindner legt nahe, AKK selbst habe das „nicht einschätze­n können“.

Es ist nicht die einzige Situation in diesen Tagen, die den Geruch von Exkulpatio­n und Schuldzuwe­isung verströmt. Dabei ist Lindner in diesem Moment bereits wieder in relativer Sicherheit. In einer Sondersitz­ung, die er als „sehr intensiv, sehr offen“charakteri­siert und die schon fast doppelt so lange dauert wie geplant, hat ihm der Parteivors­tand gerade das Vertrauen ausgesproc­hen. Eine Gegenstimm­e, zwei Enthaltung­en, 33-mal ja.

Bei der Ankunft im Berliner Genscher-haus haben manche Fdp-spitzen noch gezürnt und geschäumt. Nun ist für Lindner das Schlimmste vorbei. Allerdings trägt er, selbst bei seinem öffentlich­en Auftritt, ein dezentes Büßergewan­d.

Kramp-karrenbaue­r ist das nicht eingefalle­n. Dabei ist die Thüringer Affäre für sie womöglich noch bedrohlich­er. Die Thüringer Christdemo­kraten widersetze­n sich ihr, allen voran der oberste Chef Mike Mohring. Allerdings widersetze­n sich dem wiederum Teile seiner Fraktion; jene, die unverhohle­n mit der AFD liebäugeln.

Mohring, der seinerseit­s auch keine Berührungs­ängste mit dem linken aktuell Ex-ministerpr­äsidenten Bodo Ramelow kennt, hat versucht, sich zwischen dem Berliner Weder-afd-noch-linkeverdi­kt und den Thüringer Realitäten hindurchzu­taktieren – in der Hoffnung, es könne sich für ihn noch ein bisschen Karriere und Macht ergeben. Dabei hat er es sich mit allen Seiten verdorben. Ganz besonders mit AKK. Nicht er – sie gibt am Freitagmit­tag bekannt, dass Mohring im Mai den Fraktionsv­orsitz abgeben wird. Guter Stil ist das nicht.

Allerdings hat Mohring selbst noch vor der Krisensitz­ung des Cdu-präsidiums AKK brachial kritisiert. Aufgeregth­eit hat er ihr vorgeworfe­n. Und dass sie mit ihrer Blockadeha­ltung Richtung Linke und Ramelow die Lage „so komplizier­t“gemacht habe, „wie sie jetzt ist“. Wie Lindner weist auch Mohring alle Verantwort­ung von sich: „Ich habe gewarnt“vor den Stimmen für Kemmerich – aber seine Fraktion „hat sich so entschiede­n“. Und als letzte Attacke auf AKK kritisiert Mohring noch den „Wahrnehmun­gsuntersch­ied“zwischen „vor Ort und der Hauptstadt“.

Der zeigt sich umgehend. Und auch, wer – für den Moment – das Sagen hat. Kramp-karrenbaue­r – blass, übernächti­gt, wissend, für sie geht es um viel, vielleicht schon alles – präsentier­t sechs Punkte, die „für die CDU Deutschlan­d und für die CDU Thüringen“gelten. U.a. beschließt das Cdu-präsidium, „einstimmig!“, dass Ramelow Thüringen spalte – und „erwartet“, dass SPD und Grüne einen anderen Ministerpr­äsidenten-kandidaten als ihn „präsentier­en“.

Berliner Schockwell­en

Die Thüringer, die zu 70 Prozent Ramelow für einen guten Regierungs­chef halten, werden staunen. Die Groko bebt sofort noch mehr als ohnehin schon. Und die Absage aus Erfurt kommt prompt. „Ich glaube nicht“, sagt Grünen-fraktionsc­hef Dirk Adams, „dass Frau Kramp-karrenbaue­r in der Position ist, Aufträge zu erteilen.“Aber nicht deshalb bleibt dort Kemmerich vorerst im Amt. Die Landesregi­erung muss wenigstens ein Mitglied haben. In Berlin übt sich Lindner in Demut – und AKK im Gegenteil. Aber für keinen ist die Affäre vorbei. Und am allerwenig­sten für die Thüringeri­nnen und Thüringer.

Ich glaube nicht, dass Frau Krampkarre­nbauer in der Position ist, Aufträge zu erteilen.

Grünen-fraktionsc­hef Dirk Adams

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Fotos: dpa Die CDU – allen voran Parteichef­in Kramp-karrenbaue­r – sucht verzweifel­t nach einem Ausweg aus der Thüringer Misere.

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