Ein anderer Stil
Nach 100 Tagen an der Spitze: Welche Akzente Christine Lagarde bei der Europäischen Zentralbank setzt
Frankfurt/main. „Es ist nicht genug zu wissen, man muss auch anwenden; es ist nicht genug zu wollen, man muss auch tun.“– Christine Lagarde zitiert zum Abschluss ihrer Rede beim Neujahrsempfang im Frankfurter Römer den wohl berühmtesten Sohn der Stadt: Johann Wolfgang von Goethe. Und die Französin, die seit dem 1. November die Europäische Zentralbank (EZB) führt, tut es auf Deutsch. Noch gebrochen, aber sie tut es. Standing Ovations, minutenlanger Applaus.
Lagarde will besser erklären, was die EZB tut und warum die Zentralbank es tut. Die Währungshüter sollen sich nicht hinter der gläsernen Fassade des Ezb-turms im Osten Frankfurts verschanzen, sondern präsent sein. „Wir werden versuchen, eine Sprache zu sprechen, die jeder versteht. Und wir werden zuhören und ein offenes Ohr für die Sorgen und Bedenken der Bürgerinnen und Bürger haben“, verspricht Lagarde.
Gerade in Deutschland hatte ihr Vorgänger Mario Draghi einen schweren Stand. Null- und Negativzinsen
machen nicht nur Sparern das Leben schwer, sondern insbesondere Banken und Sparkassen – Europas Finanzsektor ist mehr als zehn Jahre nach der Finanzkrise nach wie vor schwach. Dass der Italiener in seiner achtjährigen Amtszeit mit unkonventionellen Entscheidungen maßgeblich zur Rettung des Euro beitrug, wird von Kritikern des Ezbkurses gerne übersehen.
Weder Taube noch Falke
Lagarde weiß auch um die Risse, die es im EZB-RAT, dem obersten Entscheidungsgremium der Zentralbank, zu kitten gilt. Gegen den Widerstand etlicher nationaler Notenbankchefs setzte Draghi kurz vor Ende seiner achtjährigen Amtszeit eine Verschärfung der seit Jahren ultralockeren Geldpolitik durch. Kurz darauf erklärte die ehemalige Bundesbank-vizepräsidentin Sabine Lautenschläger ihren Rücktritt aus dem Ezb-direktorium. Dem Vernehmen nach war die Juristin zermürbt vom „System Draghi“, in dem der Präsident Entscheidungen durchgesetzt und nicht den Konsens gesucht habe.
Lagarde setzt andere Signale: Knapp zwei Wochen nach ihrem Amtsantritt trifft sie sich mit dem EZB-RAT im Schlosshotel Kronberg. Ein Foto zeigt die Notenbanker ungewohnt hemdsärmelig: etliche Sakkos hängen über den Stühlen, keiner der Anwesenden trägt eine Krawatte. Die frühere Synchronschwimmerin versteht sich als Vermittlerin zwischen den
Christine Lagarde
Befürwortern einer lockeren Geldpolitik („Tauben“) und denen, die die Zügel gerne wieder anziehen würden („Falken“). „Ich bin weder Taube noch Falke. Meine Absicht ist es, eine Eule zu sein“, sagt Lagarde. Schließlich gälten Eulen als weise Tiere.
So trägt sie eine Brosche in Form einer goldenen Eule am Revers ihres schwarzen Anzugs, als sie im Januar vor die Presse tritt. „Wir werden jeden Stein umdrehen“, bekräftigt Lagarde – sie verordnet der EZB die erste grundlegende Überprüfung der Strategie seit 2003 – vom Blick auf die Inflation über den gesamten geldpolitischen Instrumentenkasten bis hin zur Kommunikation.
Das gestörte Verhältnis vieler Deutscher zur EZB sei auch eine Folge der Distanz der Institution zu den Bürgern, analysiert die ehemalige Wirtschaftsweise Isabel Schnabel, die seit Januar im Ezbdirektorium sitzt. In der Kommunikation müsse „die EZB besser werden“. Offene Kritik – auch das ein neuer Stil. Und dazu das Eingeständnis, nicht auf alles sofort die passende Antwort zu haben. Anders als ihre drei Vorgänger an der Ezb-spitze war sie nie Chefin einer nationalen Notenbank. Ob und wie sehr Lagarde den Kurs der EZB tatsächlich verändern kann oder will, wird sich zeigen. „Geldpolitisch wird sie sich noch beweisen müssen“, sagt der Chefvolkswirt der ING Deutschland, Carsten Brzeski.
Dass sie sich in Szene setzen kann, beweist die neue Ezb-präsidentin bei öffentlichen Auftritten. Beim Neujahrsempfang der Stadt Frankfurt erzählt Lagarde von einem Telefonat, nachdem ihr der Spitzenjob angetragen worden war. Zunächst habe sie ihren Mann aufklären müssen, dass die EZB nicht in Brüssel ihren Sitz habe, sondern in Frankfurt: „Pause in der Leitung. Dann: Sag ja!“Warum er so rasch zugestimmt habe? „1. Sehr gute Flugverbindungen zwischen Frankfurt und Marseille, 2. Sie haben eine sehr gute Fußballmannschaft, 3. Es ist eine sehr nette Stadt.“Lagardes Fazit: „Also: Hier bin ich. Und ich bin sehr froh, dass ich seinem Rat gefolgt bin!“dpa