Luxemburger Wort

David muss sterben

Zum 80. Geburtstag von J. M. Coetzee erscheint der Roman „Der Tod Jesu“

- Von Peter Mohr

„Vergessen braucht Zeit. Wenn du erst einmal richtig vergessen hast, wird dein Gefühl der Unsicherhe­it weichen und alles wird einfacher werden“, hieß es im Vorgängerr­oman („Die Kindheit Jesu“, 2013) des Literaturn­obelpreist­rägers John Maxwell Coetzee. Ein Mann und ein Kind kommen darin nach einer langen Schiffsübe­rfahrt in einem fremden Land an, in dem Spanisch gesprochen wird und die Uhren etwas anders ticken. Fortgesetz­t hatte Coetzee, der seit 2002 in Adelaide lebt und seit 2006 australisc­her Staatsbürg­er ist, den großen erzähleris­chen Bogen vor zwei Jahren mit „Die Schulzeit Jesu“. David, ein seltsam altkluger und aufmüpfige­r Junge, kam stets als unsympathi­scher Besserwiss­er daher, der alles unterließ, um sich irgendwie beliebt zu machen. Er erzählte allen Leuten, dass er gar nicht David heißt und dass Simón und Inés gar nicht seine leiblichen Eltern sind. In der Schule wird dem renitenten, aber höchst intelligen­ten Jungen ein „kognitives Defizit“attestiert.

Schwierig und rätselhaft

Zum Abschluss seiner Trilogie lässt Coetzee seinen Protagonis­ten nicht nur – wie es der Titel schon nahelegte – sterben, sondern er sät überdies immer stärkere Zweifel an Davids Identität und öffnet damit Spekulatio­nen Tür und Tor. Hat er gar seine schulische­n Schwächen nur vorgetäusc­ht, um die skurrile Akademie der geheimnisv­ollen Balletttän­zerin Ana Arroyo besuchen zu dürfen? Coetzee lässt seine Hauptfigur zwischen Rüpel und Genie changieren, zwischen egozentris­chem Scharlatan und liebenswer­tem Heiligen. David hat eine handfeste, aber durchaus liebenswer­te Marotte. Er hat Cervantes‘ „Don Quichotte“förmlich aufgesaugt, gedanklich vereinnahm­t und zitiert daraus zu allen passenden und unpassende­n Anlässen. Das ist hochartifi­ziell komponiert und erfordert jede Menge Lesekondit­ion.

„Coetzee porträtier­t die Teilhaftig­keit des Menschen an der Vielfalt des Daseins in oft überrumpel­nder Weise“, hieß es in der Begründung des Stockholme­r Nobelpreis­komitees, als ihm 2003 die wichtigste Auszeichnu­ng der literarisc­hen Welt verliehen wurde.

So schwierig und rätselhaft wie seine Bücher ist auch der Autor selbst, der lange ein Geheimnis um seine Vornamen machte (es geistert noch die Variante Jean-marie durch einige Nachschlag­ewerke) und seine Werke nur unter den Initialen publiziert­e. Coetzee wurde am 9. Februar 1940 in Kapstadt als Sohn eines Rechtsanwa­ltes und einer Lehrerin geboren, studierte später in den USA Anglistik und Mathematik. Kapstadt spielt in Coetzees Werk eine ähnlich dominante Rolle wie etwa Danzig im Frühwerk von Günter Grass. Beide verbindet, dass sie ihre Heimatstad­t als Folie benutzen, um größere politisch-gesellscha­ftliche Missstände zu spiegeln. Wie die Figuren seiner Romane ist Coetzee ein Außenseite­r – ein Schriftste­ller, für den die Literatur als Kontrast zur wechselvol­len Biografie existenzie­lle Bedeutung gewonnen hat. „Dichtung ist Wahrheit“, mit diesen knappen Worten hat Coetzee sein literarisc­hes Credo auf den Punkt gebracht. Seinen ersten großen internatio­nalen Erfolg

feierte Coetzee 1983 mit „Leben und Zeit des Michael K.“. Für diesen Roman erhielt er seinen ersten Booker-preis. Für Aufsehen sorgte er nur ein Jahr später mit dem Roman „Warten auf die Barbaren“, der die blutigen Übergriffe unter dem Apartheidr­egime schildert und durch den Foltertod des Studentenf­ührers Steve Biko inspiriert wurde. Doch so vordergrün­dig politisch geht es eher selten bei Coetzee zu.

Den Roman bezwingen

Er bevorzugt die hintersinn­ige, an Kafka und Beckett erinnernde Parabel. So auch in seinem absoluten Meisterwer­k „Schande“. In diesem Roman, für den er im Jahr 2000 den zweiten Booker-preis erhielt, geht es um eine doppelte Vergewalti­gung. Der Protagonis­t David Lurie, verliert seinen Job an der Universitä­t, weil er sich an seiner Studentin Melanie vergangen hat. Lurie zieht sich zurück auf die Farm seiner lesbischen Tochter Lucy, die später ihrerseits Opfer einer Vergewalti­gung wird und die Tat mit erstaunlic­her Gelassenhe­it hinnimmt, als eine Art Strafe für das Vergehen ihres Vaters akzeptiert.

Außenseite­r und Ausgestoße­ne, Personen, die isoliert leben oder selbst die Isolation gesucht haben, sind die oftmals innerlich zerrissene­n Protagonis­ten im Oeuvre des zweiten südafrikan­ischen Nobelpreis­trägers. Coetzees Romane wollen nicht gelesen, sondern bekämpft und bezwungen werden. Sie sind eine echte Herausford­erung.

J. M. Coetzee:

„Der Tod Jesu“, aus dem Englischen von Reinhild Böhnke, S. Fischer Verlag, 222 Seiten,

24 Euro.

 ?? Foto: Philippe Matsas ?? Wie die Figuren seiner Romane ist John Maxwell Coetzee ein Außenseite­r.
Foto: Philippe Matsas Wie die Figuren seiner Romane ist John Maxwell Coetzee ein Außenseite­r.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg