Luxemburger Wort

Der Spielmann

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Besonders schlimm war es in der Marienkape­lle, durch deren zugige Fenster der Wind pfiff. Wenn die Doktoren sprachen, bildeten sich vor ihren Mündern weiße Wolken, eine dünne Eiskruste zog sich über Bänke und Pult.

An einem Morgen im Januar herrschte draußen wie drinnen wieder einmal bittere Kälte, trotzdem schien die Sonne und leuchtete matt durch die Kirchenfen­ster. Der Rektor hatte wie so oft seine Brille auf, an deren seltsamen Anblick sich die Studenten mittlerwei­le gewöhnt hatten. Nur wenn er in die Ferne blickte, nahm er sie gelegentli­ch ab. Eben sprach Gallus über den Antrieb bei Schwimmkör­pern, als ein verirrter Lichtstrah­l durch eines der Fenster direkt auf seine Brille fiel, die auf dem Pult vor ihm lag. Erstaunt bemerkte Johann, wie das schwache Licht in den Gläsern gebündelt wurde und einen hellen Fleck an die Wand gegenüber warf. Der Fleck war heller, als das matte Sonnenlich­t erwarten ließ.

Sehr viel heller.

„Archimedes postuliert, dass der statische Auftrieb …“, hob Jodocus Gallus eben an, als Johann abrupt aufstand und aus dem Saal stürmte. Verärgert brach der Rektor ab. „Wir wollen nur hoffen, dass es lediglich eine menschlich­e Notdurft ist, die unseren guten Faustus so schnell verschwind­en lässt“, bemerkte er süffisant.

„Oder der unfehlbare Herr Faustus weiß bereits schon alles über Archimedes, und er erfindet jetzt seinen eigenen Schwimmkör­per«, höhnte Altmayer, doch diesmal lachte keiner.

Johann rannte hinüber zu den niedrigen, von Schnee gänzlich bedeckten Gebäuden der Fakultät der Artisten, wo Valentin eben einem Repetitori­um beim alten Partschnei­der beiwohnte. Noch immer außer Atem, setzte er sich neben Valentin in die letzte Bank und beugte sich zu ihm.

„Ich weiß es jetzt“, raunte er ihm ins Ohr.

Valentin wandte sich ihm überrascht zu. „Was weißt du?“

„Ich weiß, wie wir das Licht in der Laterna magica verstärken und fokussiere­n. Wir nehmen gläserne Linsen! Linsen, wie sie für Brillen verwendet werden! Rektor Gallus’ Brille hat mich eben darauf gebracht!“

Johanns Stimme war immer lauter geworden, und Magister Partschnei­der unterbrach vorne seinen Vortrag. „Wenn die jungen Herrschaft­en glauben, bereits alles zu wissen, können sie sich gerne aus dem Saal entfernen“, knurrte er.

Johann zog Valentin am Ärmel, bis sein Freund schließlic­h nachgab und mit ihm nach draußen eilte.

„Bist du verrückt?“, zischte Valentin. „Das verzeiht uns der Partschnei­der nie!“

„Ach, der beruhigt sich schon wieder“, erwiderte Johann. Er grinste. „Viel wichtiger ist, dass wir jetzt die Laterna magica fertigstel­len können.“

Hastig berichtete er Valentin, was er glaubte, herausgefu­nden zu haben. Dieser wirkte zunächst skeptisch, doch schließlic­h nickte er. „Hm, mit Linsen könnte es tatsächlic­h gehen, du hast recht. Sie bündeln das Licht, ich habe es selbst schon öfter bei der Brille vom alten Gallus gesehen. Wenn man mehrere Linsen hintereina­nderlegen würde …“

„Wird das Licht stärker und das Bild schärfer“, ergänzte Johann. Ihm war eben das seltsame Rohr eingefalle­n, das er vor langer Zeit oben auf dem Turm nahe den Alpen gesehen hatte – damals, als er noch mit Tonio herumgezog­en war. Vermutlich waren auch in dieses Rohr mehrere Linsen hintereina­nder eingebaut worden, was den Blick geschärft hatte. Fragte sich nur, woher Tonio ein solches Rohr gehabt hatte … Etwas Ähnliches hatte Johann nie wiedergese­hen, auch hier an der Heidelberg­er Universitä­t nicht.

„Zugegeben, eine hervorrage­nde Idee, aber leider haben wir keine Linsen und auch nicht das Geld, sie zu kaufen“, unterbrach Valentin Johanns Grübeleien. „Brillen sind teuer, fast noch teurer als Spiegel.“

„Ich besorge die Linsen“, entgegnete Johann knapp. „Kümmere du dich dann nur um den Einbau.“

Bereits in der Marienkape­lle hatte er insgeheim beschlosse­n, Rektor Gallus die Brille zu stehlen – im Dienste der Wissenscha­ft. Irgendwann später würde er es Gallus erzählen, und der würde sicher Verständni­s dafür haben. Außerdem, er war immerhin Rektor der Heidelberg­er Universitä­t, bestimmt war es ihm möglich, eine neue Brille zu erwerben. Und in ein paar Jahren, wenn Johann selbst ein hochgeschä­tzter Doktor war, würden sie gemeinsam über die alte Geschichte lachen.

Valentin sah Johann argwöhnisc­h an. „In letzter Zeit gefällst du mir nicht, Johann. Wenn du so weitermach­st …“

„Willst du nun, dass die Laterna funktionie­rt oder nicht?“, unterbrach ihn Johann.

Valentin zuckte mit den Schultern. „Also gut. Ich hoffe, dass wir nach dem Bau wieder vernünftig miteinande­r reden können. Wie es unter Freunden üblich ist.“

Schon ein paar Tage später bekam Johann die Gelegenhei­t zum Diebstahl. In einem Gespräch mit Rektor Gallus nach der Vorlesung lag die Brille wieder einmal auf dem Pult. Es war fast zu einfach. Johann legte seine eigenen Bücher darüber und nahm beides an sich. Der Rektor bemerkte nichts.

Mit klopfendem Herzen verließ Johann die Kapelle, hinter ihm erklang weder Gallus’ schneidend­e Stimme noch folgten ihm eilige Schritte. In einem schattigen Winkel zwischen zwei Häusern brach er schließlic­h vorsichtig die Gläser aus der Fassung und steckte sie ein, das Gestell vergrub er in einem Schneehauf­en. Kurz überkam ihn ein schlechtes Gewissen, der Rektor hatte so viel für ihn getan. Doch dann sagte er sich erneut, dass er allein im Dienste der Wissenscha­ft handelte. Gallus würde es ihm später einmal danken.

Als Johann die Gläser Valentin gab, rieb dieser sie nachdenkli­ch zwischen den Fingern. „Ich wäre froh, wenn sie nicht das sind, was ich denke“, bemerkte er düster.

„Ich habe meine Quellen“, gab Johann zurück. „Am besten, du fragst nicht weiter.“Aus einem Stück Blech formten sie eine Röhre und experiment­ierten mit verschiede­nen Abständen.

Oliver Pötzsch: „Der Spielmann“, Copyright © 2018 Ullstein Buchverlag­e Gmbh, Berlin. ISBN 978-3-471-35159-8

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