Die Untergrabung der Integrität
Seit Jahrzehnten berichten Studien von der steigenden Anzahl von Mobbing gegenüber Mitarbeitern, sei es vom Vorgesetzten oder von anderen Mitarbeitern. Kaum hört man allerdings von der wachsenden Anzahl von Vorgesetzten, die von Mitarbeitern direkt oder i
Wer sich mit der Thematik Mobbing auseinandersetzt, stößt unweigerlich auf eine der gefährlichsten sozialen Waffen des Menschen: die Ausgrenzung eines Einzelnen aus einer Gruppe, um dieser Person Schaden zuzufügen. Bezogen auf die Arbeitswelt, erklärt der Mobbingexperte Dr. Klaus Mucha, dass das Ziel von Mobbing sei, jemanden fertigzumachen oder aus einem Unternehmen zu drängen. Daher sei auch nicht jede Kritik oder unfreundliche Verhaltensweise automatisch schon als Mobbing zu betrachten. Mobbing ist kein Affekt oder eine spontane Aktion, sondern es geschieht langfristig und gezielt.
Grundlegend definiert das Bündnis gegen Cybermobbing in seiner empirischen Bestandsaufnahme für Deutschland, Österreich und die Schweiz jede Art von Mobbing als systematische und gezielte Angriffe wie Anfeindungen, Schikanierungen oder Diskriminierungen, denen eine Person wiederholt und über einen längeren Zeitraum ausgesetzt ist. In Verbindung mit digitalen Medien und sozialen Netzwerken sind damit außerdem Diffamierungen, Beleidigungen, Belästigungen oder Bloßstellungen gemeint, die ebenfalls länger andauern (Cybermobbing).
In diesem Sinne sind solche Ausgrenzungsstrategien und verletzenden Gruppendynamiken, in denen einzelne Menschen an den Rand oder aus einer Gruppe gedrängt werden sollen, keineswegs auf die Arbeitswelt beschränkt. Die Methoden, die genutzt werden, um bestimmte Personen zu mobben, werden in verschiedensten sozialen Umwelten wirksam eingesetzt. Es kann genauso gut in einer Schulklasse, einer Behörde, einem Verein, einem Freundeskreis, der Nachbarschaft oder in einem sozialen Netzwerk geschehen.
Typisch für Mobbing sind Beschimpfungen, Sticheln, Hänseln, Isolierung oder sogar die Androhung bzw. das Erleben von Gewalt. In ihrer Heftigkeit haben diese Verhaltensweisen in den letzten Jahren deutlich zugenommen, nicht zuletzt auch durch die vermeintliche Anonymität in digitalen Welten. Zu den Ursachen solcher destruktiven Handlungsweisen liegen allerdings aktuell kaum belastbare wissenschaftliche Studien vor.
Allgemein wird davon ausgegangen, dass einerseits veränderte Rahmenbedingungen den Nährboden für Mobbingattacken bilden können (z. B. durch eine Reorganisation am Arbeitsplatz). Andererseits können auch die Individualität, eventuelle Auffälligkeiten oder die sozialen Hintergründe des Opfers Mobbing auslösen. Dabei scheinen Neid und Ärger bei den Tätern häufig eine wichtige Rolle zu spielen. So viel, so allgemein.
Konkret auf die Arbeitswelt bezogen, sind Führungskräfte und übergeordnete Strukturen daher gefordert, eine hohe Sensibilität gegenüber solchen Dynamiken im Team zu entwickeln, auch im Hinblick auf den gesundheitlichen und wirtschaftlichen Schaden, der durch Mobbing entsteht. Im optimalen Falle werden Mobbingattacken frühzeitig erkannt, persönlich angesprochen und Grenzen aufgezeigt sowie durch gezieltes Konfliktmanagement und eine verbesserte Arbeitsorganisation entschärft.
In der Regel bleibt es allerdings dem individuellen Geschick eines Vorgesetzten überlassen, Mobbing bei Mitarbeitern zu verhindern. Das kann aber schwierig, ja sogar unmöglich werden, wenn eine Führungskraft selbst zur Zielscheibe von Mobbingattacken wird.
Mobbing kann in der Arbeitswelt in verschiedene Richtungen gehen. Mit horizontalem Mobbing werden längerfristige Attacken auf einer Ebene bezeichnet, also wenn Mitarbeiter gleichgestellte Mitarbeiter mobben. Beim vertikalen Mobbing geht es hingegen von oben nach unten, d. h. die Führungskraft mobbt untergeordnete Mitarbeiter (Bossing). Wenn sich dagegen untergeordnete Mitarbeiter gezielt gegen Vorgesetzte verbünden, spricht man vom Staffing.
Laut Mucha fällt diese spezielle Form des Mobbings weniger auf und geschieht zunächst im Verborgenen. Zum einen sind offene Angriffe gegen Chefs eher selten, vor allem aufgrund von deren Stellung und potenziellen Sanktionsmöglichkeiten. Andererseits geben Vorgesetzte nur ungern zu oder wollen gar nicht wahrnehmen, dass sie gemobbt werden. Einfach, weil das am eigenen Selbstwert kratzt und keine Führungskraft gerne schwach wirken will.
Doch wenn Mitarbeiter sich verbünden, um die Autorität einer Führungskraft zu untergraben, kann das so weit gehen, dass es zu einem allgemeinen Respektverlust vor der Person kommt und auch außerhalb der Arbeit über Betroffene schlecht gedacht und geredet wird. Dazu werden einerseits Informationen zurückgehalten bzw. Arbeitsanweisungen ignoriert, verzögert oder verweigert. Teilweise können so Vorgesetzte den Kontakt zum Arbeitsgeschehen und dem Team vollständig verlieren. Daraus entwickeln sich neue Fehlerquellen für die betroffenen Führungskräfte, die wiederum weitere Angriffsflächen freilegen.
Andererseits werden gemobbte Vorgesetzte zusehends unsicherer, was die dringend benötigte Führungskompetenz zusätzlich reduziert. Durch die heimliche Verbreitung von Gerüchten und ständigen Lästereien entwickeln Betroffene ein chronisch ungutes Gefühl, da sie nicht lokalisieren können, woher die ablehnende Stimmung gegen sie gespeist wird. Es ist kaum nachvollziehbar und greifbar, wenn innerhalb geschlossener Gruppen in der Kaffeeküche oder in sozialen Netzwerken über längere Zeit viele Personen dieselben Informationen und Empfindungen über Vorgesetzte austauschen sowie ihr weiteres Vorgehen miteinander abstimmen.
Keine Gnade
Doch Staffing geschieht nicht ohne Ursache. Einerseits können Mitarbeiter so reagieren, wenn ein schlechtes Betriebsklima, unklare Zuständigkeiten oder schnelle Veränderungen den Arbeitsalltag längerfristig belasten und sich Defizite im Führungsverhalten des Vorgesetzten zeigen. Andererseits ist Neid häufig eine Ursache und lässt sich auf einzelne Täter zurückführen. Auslöser können etwa die überraschende Beförderung jüngerer Mitarbeiter oder höhere Gehälter und vermeintliche Privilegien älterer Vorgesetzter sein. Ebenso können eine als Kränkung empfundene Kritik oder die alltäglichen Umgangsformen eines Vorgesetzten der Ursprung von Staffing sein.
Damit allerdings entsprechende Attacken überhaupt möglich werden, müssen sich einige Mitarbeiter oder sogar das ganze Team miteinander solidarisieren und ihr Vorgehen organisieren. Häufig ist am Anfang von Staffing eine Emotionalisierung der Arbeitssituation und des Führungsverhaltens zu beobachten. Nur so lässt sich bei „Mitläufern“überhaupt die Bereitschaft erzeugen, Vorgesetzte ebenfalls direkt oder indirekt anzugreifen.
Denn einerseits verfügen Führungskräfte über betrieblich verankerte Sanktionsmöglichkeiten. Andererseits wird das Verhalten von Vorgesetzten keineswegs von allen Mitarbeitern prinzipiell abgelehnt. Gerade wenn es um die Persönlichkeit des Vorgesetzten geht, lassen sich anfänglich abwertende Äußerungen auf nur wenige Personen zurückführen, die nach und nach das gesamte Team mit ihren Ansichten infizieren. Daher lässt sich im Anfangsstadium diese langsam beginnende Dynamik noch unterbrechen, die erst langfristig zu Staffing führt.
Doch wenn Staffing erst einmal richtig im Gang ist, so beschreibt es der Soziologe und Coach Axel Quandt, dann wird es schwer, die Notbremse zu ziehen. Staffer sind seiner Mei
nung nach überzeugt, das Richtige zu tun. Sie wollen Vorgesetzten Grenzen aufzeigen, weil sie deren Verhalten für unangemessen halten. Aufgrund der permanenten Schikane wird ein Teufelskreis in Gang gesetzt, wodurch die Führungskraft weniger leistungsfähig und zunehmend unsicherer wird. Das bestätigt wiederum die schlechte Meinung der Staffer über ihr Opfer. Buchautorin Astrid Schreyögg beschreibt dieses Dilemma so: Die Führungskraft hat Mühe, überhaupt noch ein Bein auf den Boden zu bekommen, weil ihr die Mitarbeiter hinten und vorne nachweisen, dass sie unfähig ist.
In einer solch verfahrenen Situation zeigt sich erst, ob eine Führungskraft irgendeine Form von Rückendeckung hat. Denn es ist selbstverständlich, dass Kritik und Anweisungen von Vorgesetzten an Mitarbeitern zuweilen nicht gut angenommen werden und vielleicht auch manchmal falsch sein können. In diesen Momenten werden Vorgesetzte von Mitarbeitern in Frage gestellt. Doch im optimalen Fall gelingt es diesen immer wieder neu, länger andauernde Spannungen und Zweifel zu verringern und das Vertrauen in die Führungskompetenz wiederherzustellen.
Wenn es aber stattdessen dazu kommt, dass die Position von Vorgesetzten direkt oder indirekt untergraben wird, wäre entsprechend einer Logik von Hierarchieebenen direkt ein Eingriff einer übergeordneten Instanz notwendig. Das könnten – wenn vorhanden – höhergestellte Vorgesetzte sein. Doch in Zeiten von flachen Hierarchien fehlt diese übergeordnete Ebene immer häufiger oder sie ist sehr unklar definiert. Doch selbst wenn diese Ebene vorhanden ist, kann ein Betroffener nur selten auf viel Verständnis hoffen.
Von Vorgesetzten wird erwartet, dass sie eventuelle Probleme in ihrem Team selbst in den Griff bekommen. Gelingt das nicht nach einiger Zeit, beginnt die übergeordnete Instanz an der Kompetenz der Führungskraft zu zweifeln. Da die betroffene Führungskraft selbst als Problemfall erscheint und zunehmend mit Fehlern, Konflikten und negativen Geschichten in Verbindung gebracht wird, sinkt das Vertrauen von höhergestellten Vorgesetzten. Statt eines strategischen Eingriffs in das Team wird eher die Führungskraft und deren eventuelles fehlerhaftes Verhalten beobachtet und bewertet.
Die Möglichkeit, dass Staffing die Ursache für viele Schwierigkeiten und auch das auffällige Verhalten von Betroffenen sein könnte, wird dabei in den seltensten Fällen in Betracht gezogen. Doch die fehlende Unterstützung einer Führungskraft ermutigt Mitarbeiter erst richtig, diese offen zu attackieren. Schließlich werden sie zum einen in ihrer eigenen Sicht bestätigt, da die übergeordnete Instanz ebenfalls immer weniger Vertrauen in die Führungskompetenz der betroffenen Person zu haben scheint.
Zum anderen fürchten Mitarbeiter auch weniger negative Konsequenzen für sich selbst und werden so indirekt bestärkt, die begonnenen Attacken zu intensivieren. Schließlich handeln sie vermeintlich im Auftrag einer höheren Instanz. Warum sich diese aber tatsächlich von einer unter Beschuss geratenen Führungskraft abwendet, kann auch ganz andere Beweggründe haben. Zunehmend spielt die Angst vor einem Rufschaden bei vielen Arbeitgebern eine immer größere Rolle.
Im digitalen Zeitalter, wo ein Shitstorm mit großen Auswirkungen in kürzester Zeit entstehen kann und etwas schnell medial aufgebauscht wird, will man vor allen Dingen nicht auffallen. Da ein Team zahlenmäßig ihrer Führungskraft meist überlegen ist und eine Klärung des Konflikts in der Regel sehr kompliziert erscheint, kann es für eine übergeordnete Instanz besser sein, dem Druck der Mehrheit nachzugeben und damit schlechter Publicity vorzubeugen.
Doch häufig ist einfach der Grund, dass man sich von einer Führungskraft trennen will, unabhängig von tatsächlich erbrachter Leistung und den Konflikten im Team. Die tieferen Motive können ganz unterschiedlich sein, sind aber oft arbeitsrechtlich nicht akzeptabel. Da eine schnelle Versetzung oder Kündigung je nach Betrieb und Kollektivvertrag schwierig sein kann, lässt sich Staffing auch indirekt nutzen, um die Beendigung eines Arbeitsverhältnisses zu beschleunigen.
Der durch diese quälende Dynamik ausgelöste psychische Druck für alle Beteiligten lässt in einer solchen ausweglosen Situation oft nur noch eine Trennung als einzig möglichen Ausweg erscheinen. Auch für die Betroffenen selbst, die im besten Fall eine Art „Schmerzensgeld“bzw. eine Abfindung erhalten. Doch der negative Beigeschmack von Staffing lässt sich damit nicht beseitigen.
Auch wenn die Ursachen für Staffing sehr häufig bei der Führungskraft selbst liegen, rechtfertigt das nicht, dass offene oder subtile Gewalt gegen Vorgesetzte stillschweigend toleriert wird. Es ist eine unhaltbare Situation für die menschliche Psyche, wenn die persönliche Integrität und Würde eines Menschen untergraben wird, das gilt auch für Vorgesetzte. Daher wäre es wünschenswert, dass allen Arten des Mobbings mehr Beachtung geschenkt wird und spezialisierte Anlaufstellen für Führungskräfte entstehen, die Betroffenen eine Unterstützung ermöglichen. Ein erster Schritt könnte eine Sensibilisierung zum Thema Staffing sein.
Literatur:
Mobbing und Cybermobbing bei Erwachsenen – die allgegenwärtige Gefahr: www.buendnis-gegen-cybermobbing.de
Mucha K., Mobbing. Eine empirische Untersuchung: Befragung und psychologische Analyse. Südwestdeutscher Verlag für Hochschulschriften: 2012
Schreyögg A., Coaching für die neu ernannte Führungskraft.
VS Verlag für Sozialwissenschaften: 2010
Wenn sich untergeordnete Mitarbeiter gezielt gegen Vorgesetzte verbünden, spricht man
von Staffing.
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