Da fehlen die Worte
Gerüche sind schwer zu beschreiben. Das liegt am Aufbau des Gehirns und dem fehlenden Vokabular. Doch mit Training ist viel möglich.
Der Geruch ist mir vertraut. Ich kenne ihn gut, aber ich kann ihn nicht fassen. Mit geschlossenen Augen schnuppere ich. Sind es Rosinen oder ein Gebäck mit Marzipan? Die Parfümeurin Bibi Bigler verneint. „Es ist Panettone, ohne Rosinen, aber mit Englischer Crème. Die Zutaten Vanille, Orangenöl und Butter ergeben den unverwechselbaren Panettonegeruch.“
Unverwechselbar ist der Geruch für die Duftexpertin. Ich dagegen scheitere auch daran, eine Kokosnuss und eine Passionsfrucht mit geschlossenen Augen zu erriechen. Allein das Kraut im Tee bestimme ich korrekt als Salbei. Vielen Laien geht es so wie mir. Beim Versuch, scheinbar leicht zu erkennende Gerüche zu identifizieren, versagen sie in der Hälfte der Fälle.
Gerüche wecken Assoziationen oder vage Erinnerungen, aber es fehlen die Worte, um sie zu beschreiben. Dagegen genügt ein flüchtiger Blick auf eine Mandarine oder eine Rose, und wir können den Namen aussprechen und detailreich erklären, wie sie aussehen.
Man könnte meinen, dass unser Geruchssinn im Vergleich zum Sehsinn verkümmert ist. Tatsächlich können 5 Prozent der Menschen nichts riechen und 15 Prozent nur beschränkt. Dies kann erblich bedingt sein, aber in den meisten Fällen verlieren die Betroffenen den Geruchssinn im Lauf ihres Lebens, nach einer Virusinfektion oder einem Schädel-hirn-trauma, wenn die Verbindung zwischen den Riechsinneszellen in der Nasenschleimhaut und dem Gehirn beschädigt wird.
Während also einer von fünf Menschen nur schlecht oder gar nichts riechen kann, passiert dies beim Sehsinn viel seltener: Nur ungefähr 0,1 Prozent der Bevölkerung in westlichen Ländern ist blind und 1,3 Prozent sehbehindert.
Bedeutet das, dass wir in unserem Alltag ohne weiteres auf den Geruchssinn verzichten könnten? Der Mediziner und Neurowissenschaftler Johannes Frasnelli verneint. „Der Verlust ist sicher kleiner, als wenn man erblindet, aber viele Menschen leiden sehr darunter, wenn sie die Natur und andere Menschen nicht mehr riechen können. Denn Gerüche tragen immens zum Wohlbefinden bei.“
Auch das Essen bereitet weniger Freude. Um das reiche Bouquet eines Fruchtsalats oder eines Käses genießen zu können, sind wir auf den Geruchssinn angewiesen. Denn mit der Zunge schmecken wir nur die fünf groben Geschmacksrichtungen süß, sauer, salzig, bitter und umami, die Aromen aber steigen über den Rachen von hinten in den Nasenraum auf und werden gerochen.
Auch bei der Partnerwahl spielt der Geruch eine wichtige Rolle. Einige Studien zeigen, dass sich Menschen besonders zu Personen hingezogen fühlen, deren Immungene sich stark von ihren unterscheiden. Wie stark dieser Effekt ist, ist allerdings umstritten. Sicher ist dagegen, dass wir einige potenzielle Partner in die Flucht schlagen, wenn wir nichts riechen und uns deshalb entgeht, wie sehr wir stinken.
Der Geruchssinn warnt uns aber nicht nur in Bezug auf die Körperhygiene, sondern auch in anderen Situationen. So riechen wir, ob Lebensmittel verdorben sind oder wenn es irgendwo brennt. Die Nase sei sensitiver als jeder Rauchmelder, sagt Frasnelli, der ein Buch mit dem bezeichnenden Titel „Wir riechen besser, als wir denken“geschrieben hat.
Tatsächlich ist der Geruchssinn des Menschen sehr gut entwickelt. Das beweisen Parfümeure wie Bibi Bigler. In ihrer zweijährigen Ausbildung in Grasse lernte sie 1 500 natürliche und synthetische Gerüche auswendig. „Jeder Geruch und jeder Duftstoff hat seinen eigenen Charakter“, sagt sie. Bigler weiß, wie das Duftmolekül Indol, das in Jasmin, Orangenblüten und anderen weißen Blüten enthalten ist, in verschiedenen Konzentrationen riecht. Stark verdünnt, duftet es blumig, in höheren Konzentrationen schwer, penetrant, animalisch. Bigler hat auch gelernt, minimale Unterschiede zu erkennen und zu benennen, beispielsweise kann sie die Gerüche von fünf verschiedenen Lavendelsorten auseinanderhalten.
Auch Laien können Gerüche gut unterscheiden, und offenbar beherrschen sie das besser, als man lange Zeit glaubte. Dies zeigte der Geruchsforscher Andreas Keller in einer Studie vor einigen Jahren. Dafür ließ er 26 freiwillige Teilnehmer an mehreren hundert Duftmischungen riechen. Die Proben enthielten 10, 20 oder 30 verschiedene Duftmoleküle und glichen sich in ihrer Zusammensetzung mehr oder weniger stark. Einige Teilnehmer schafften es, auch solche Proben auseinanderzuhalten, die sich zu 90 Prozent glichen. Die meisten Teilnehmer konnten die Proben allerdings nur dann unterscheiden, wenn sie weniger ähnlich waren und sich in mindestens 50 Prozent der Zutaten unterschieden.
Aufgrund des Tests schätzten die Forscher, dass Menschen bis zu eine Billion Düfte unterscheiden können. „Wir haben einen viel sensibleren Geruchssinn, als wir denken. Wir achten nur nicht darauf und verwenden ihn nicht in unserem Alltag“, sagte Keller damals.
Oft brauchen wir nur wenige Duftmoleküle, um einen Geruch wahrzunehmen. Durch Schnüffeln können wir sogar die Quelle aufspüren, beispielsweise ein Leck in einer Gasleitung oder eine Bananenschale, die jemand auf dem Fenstersims vergessen hat. Forscher an der University of Berkeley in Kalifornien
Wahrnehmungen. So wird ein Geruch schnell als angenehm oder unangenehm wahrgenommen, noch bevor wir wissen, was die Quelle ist. Oder er ruft ein lang vergessenes Ereignis in Erinnerung, beispielsweise an den Samichlaus (Nikolaus), der in der Kindheit die Mandarinen mitbrachte.
Über solche Erinnerungen können Gerüche erkannt werden. Diesen Effekt nutzen auch Parfümeure. „Um mir eine Duftnote zu merken, brauche ich einen Anker. Dafür verwende ich gern eine ganz persönliche Eselsbrücke. Das kann ein Bild sein, eine Situation oder ein Ort, der mir etwas bedeutet“, sagt Bigler. Mit diesem Trick kann sie sogar sehr ähnliche Düfte unterscheiden, wie etwa die fünf Lavendelsorten. „Ich merke mir die Unterschiede. Der eine Duft ist süß, weich lieblich. Der andere ist herb, krautig. Und wieder ein anderer ist stechend ätherisch, steigt direkt in die Nase. Für jede Nuance speichere ich einen Charakterzug oder ein Bild ab“, erklärt sie.
Aber Parfümeure arbeiten nicht nur mit Merkhilfen. Sie lernen auch, welche Duftmoleküle einen Geruch verursachen. Damit eröffnet sich ihnen eine neue Dimension. Sie können eine Duftmischung in einzelne Teile zerlegen, sie also chemisch analysieren. Während sie diese Fähigkeit trainieren, dürfte sich auch ihre Hirnstruktur verändern. So haben Studien gezeigt, dass gewisse Hirnareale, die für die Unterscheidung und Erinnerung von Gerüchen wichtig sind, bei Parfümeuren und Sommeliers größer sind als bei Laien. Je erfahrener diese in ihrem Beruf waren, desto größer war das entsprechende Hirnvolumen. Ähnliche Veränderungen im Gehirn haben Frasnelli und sein Team auch bei Laien beobachtet, die sechs Wochen lang 20 Minuten täglich ein Riechtraining absolvierten. Womöglich erleichtern diese Anpassungen des Gehirns es auch, Gerüche sprachlich zu erfassen.
In ihrer Ausbildung lernen Parfümeure aber auch ein neues Vokabular, mit dem sie Gerüche beschreiben. So verwenden sie oft chemische Ausdrücke oder ziehen Vergleiche zu anderen Duftquellen. Das erleichtert die Kommunikation. „Berufskollegen verstehen mich, wenn ich von einer phenolischen Note spreche oder von cis-3-hexenol“, sagt Bigler. Letzteres riecht nach frisch geschnittenem Gras oder zerriebenen Blättern und wird daher auch als Grünnote bezeichnet.
Laien fehlt dieses Vokabular. Deshalb kommen sie oft ins Stottern, wenn sie einen Geruch beschreiben sollen. Und was man nicht benennen kann, ist auch schwer zu identifizieren. Die Fähigkeit, über Gerüche zu reden, wird in unserer Gesellschaft kaum geübt. Frasnelli sagt: „Kinder lernen Autos und Hunde zu benennen, aber selten halten ihnen Erwachsene etwas unter die Nase oder beschreiben den Geruch eines Apfels.“Allgemein reden wir selten über Gerüche und wenn, dann meist in wertender Form, wenn es im Büro stinkt oder eine neue Bekanntschaft unglaublich gut riecht.
Spezifische Ausdrücke
für Gerüche
Es gibt aber Volksgruppen, die auch im Alltag viel über Düfte sprechen, so etwa die Jahai, die auf der Malaiischen Halbinsel im dichten Regenwald als Jäger- und Sammler leben. In ihrer Religion und Kultur besitzen Düfte eine höhere Bedeutung. Daraus leiten sie auch Verhaltensregeln ab, wie die Psychologin Asifa Majid erklärt. „Zum Beispiel darf sich der Geruch von kochendem Fleisch verschiedener Tiere nicht vermischen. Es wird deshalb auf verschiedenen Feuern zubereitet.“Majid erforscht, wie sich Wahrnehmung und Sprache in verschiedenen Kulturen unterscheiden.
Die Sprachen der Jahai und einiger verwandter Völker zeichnen sich durch eine Besonderheit aus: Sie haben spezifische Ausdrücke für Gerüche. In Europa oder Amerika charakterisieren wir Gerüche meist durch Vergleiche, wir sagen dann: Es riecht nach Banane. Oder wir verwenden Adjektive, die auf eine