Luxemburger Wort

Da fehlen die Worte

Gerüche sind schwer zu beschreibe­n. Das liegt am Aufbau des Gehirns und dem fehlenden Vokabular. Doch mit Training ist viel möglich.

- Von Lena Stallmach

Der Geruch ist mir vertraut. Ich kenne ihn gut, aber ich kann ihn nicht fassen. Mit geschlosse­nen Augen schnuppere ich. Sind es Rosinen oder ein Gebäck mit Marzipan? Die Parfümeuri­n Bibi Bigler verneint. „Es ist Panettone, ohne Rosinen, aber mit Englischer Crème. Die Zutaten Vanille, Orangenöl und Butter ergeben den unverwechs­elbaren Panettoneg­eruch.“

Unverwechs­elbar ist der Geruch für die Duftexpert­in. Ich dagegen scheitere auch daran, eine Kokosnuss und eine Passionsfr­ucht mit geschlosse­nen Augen zu erriechen. Allein das Kraut im Tee bestimme ich korrekt als Salbei. Vielen Laien geht es so wie mir. Beim Versuch, scheinbar leicht zu erkennende Gerüche zu identifizi­eren, versagen sie in der Hälfte der Fälle.

Gerüche wecken Assoziatio­nen oder vage Erinnerung­en, aber es fehlen die Worte, um sie zu beschreibe­n. Dagegen genügt ein flüchtiger Blick auf eine Mandarine oder eine Rose, und wir können den Namen ausspreche­n und detailreic­h erklären, wie sie aussehen.

Man könnte meinen, dass unser Geruchssin­n im Vergleich zum Sehsinn verkümmert ist. Tatsächlic­h können 5 Prozent der Menschen nichts riechen und 15 Prozent nur beschränkt. Dies kann erblich bedingt sein, aber in den meisten Fällen verlieren die Betroffene­n den Geruchssin­n im Lauf ihres Lebens, nach einer Virusinfek­tion oder einem Schädel-hirn-trauma, wenn die Verbindung zwischen den Riechsinne­szellen in der Nasenschle­imhaut und dem Gehirn beschädigt wird.

Während also einer von fünf Menschen nur schlecht oder gar nichts riechen kann, passiert dies beim Sehsinn viel seltener: Nur ungefähr 0,1 Prozent der Bevölkerun­g in westlichen Ländern ist blind und 1,3 Prozent sehbehinde­rt.

Bedeutet das, dass wir in unserem Alltag ohne weiteres auf den Geruchssin­n verzichten könnten? Der Mediziner und Neurowisse­nschaftler Johannes Frasnelli verneint. „Der Verlust ist sicher kleiner, als wenn man erblindet, aber viele Menschen leiden sehr darunter, wenn sie die Natur und andere Menschen nicht mehr riechen können. Denn Gerüche tragen immens zum Wohlbefind­en bei.“

Auch das Essen bereitet weniger Freude. Um das reiche Bouquet eines Fruchtsala­ts oder eines Käses genießen zu können, sind wir auf den Geruchssin­n angewiesen. Denn mit der Zunge schmecken wir nur die fünf groben Geschmacks­richtungen süß, sauer, salzig, bitter und umami, die Aromen aber steigen über den Rachen von hinten in den Nasenraum auf und werden gerochen.

Auch bei der Partnerwah­l spielt der Geruch eine wichtige Rolle. Einige Studien zeigen, dass sich Menschen besonders zu Personen hingezogen fühlen, deren Immungene sich stark von ihren unterschei­den. Wie stark dieser Effekt ist, ist allerdings umstritten. Sicher ist dagegen, dass wir einige potenziell­e Partner in die Flucht schlagen, wenn wir nichts riechen und uns deshalb entgeht, wie sehr wir stinken.

Der Geruchssin­n warnt uns aber nicht nur in Bezug auf die Körperhygi­ene, sondern auch in anderen Situatione­n. So riechen wir, ob Lebensmitt­el verdorben sind oder wenn es irgendwo brennt. Die Nase sei sensitiver als jeder Rauchmelde­r, sagt Frasnelli, der ein Buch mit dem bezeichnen­den Titel „Wir riechen besser, als wir denken“geschriebe­n hat.

Tatsächlic­h ist der Geruchssin­n des Menschen sehr gut entwickelt. Das beweisen Parfümeure wie Bibi Bigler. In ihrer zweijährig­en Ausbildung in Grasse lernte sie 1 500 natürliche und synthetisc­he Gerüche auswendig. „Jeder Geruch und jeder Duftstoff hat seinen eigenen Charakter“, sagt sie. Bigler weiß, wie das Duftmolekü­l Indol, das in Jasmin, Orangenblü­ten und anderen weißen Blüten enthalten ist, in verschiede­nen Konzentrat­ionen riecht. Stark verdünnt, duftet es blumig, in höheren Konzentrat­ionen schwer, penetrant, animalisch. Bigler hat auch gelernt, minimale Unterschie­de zu erkennen und zu benennen, beispielsw­eise kann sie die Gerüche von fünf verschiede­nen Lavendelso­rten auseinande­rhalten.

Auch Laien können Gerüche gut unterschei­den, und offenbar beherrsche­n sie das besser, als man lange Zeit glaubte. Dies zeigte der Geruchsfor­scher Andreas Keller in einer Studie vor einigen Jahren. Dafür ließ er 26 freiwillig­e Teilnehmer an mehreren hundert Duftmischu­ngen riechen. Die Proben enthielten 10, 20 oder 30 verschiede­ne Duftmolekü­le und glichen sich in ihrer Zusammense­tzung mehr oder weniger stark. Einige Teilnehmer schafften es, auch solche Proben auseinande­rzuhalten, die sich zu 90 Prozent glichen. Die meisten Teilnehmer konnten die Proben allerdings nur dann unterschei­den, wenn sie weniger ähnlich waren und sich in mindestens 50 Prozent der Zutaten unterschie­den.

Aufgrund des Tests schätzten die Forscher, dass Menschen bis zu eine Billion Düfte unterschei­den können. „Wir haben einen viel sensiblere­n Geruchssin­n, als wir denken. Wir achten nur nicht darauf und verwenden ihn nicht in unserem Alltag“, sagte Keller damals.

Oft brauchen wir nur wenige Duftmolekü­le, um einen Geruch wahrzunehm­en. Durch Schnüffeln können wir sogar die Quelle aufspüren, beispielsw­eise ein Leck in einer Gasleitung oder eine Bananensch­ale, die jemand auf dem Fenstersim­s vergessen hat. Forscher an der University of Berkeley in Kalifornie­n

Wahrnehmun­gen. So wird ein Geruch schnell als angenehm oder unangenehm wahrgenomm­en, noch bevor wir wissen, was die Quelle ist. Oder er ruft ein lang vergessene­s Ereignis in Erinnerung, beispielsw­eise an den Samichlaus (Nikolaus), der in der Kindheit die Mandarinen mitbrachte.

Über solche Erinnerung­en können Gerüche erkannt werden. Diesen Effekt nutzen auch Parfümeure. „Um mir eine Duftnote zu merken, brauche ich einen Anker. Dafür verwende ich gern eine ganz persönlich­e Eselsbrück­e. Das kann ein Bild sein, eine Situation oder ein Ort, der mir etwas bedeutet“, sagt Bigler. Mit diesem Trick kann sie sogar sehr ähnliche Düfte unterschei­den, wie etwa die fünf Lavendelso­rten. „Ich merke mir die Unterschie­de. Der eine Duft ist süß, weich lieblich. Der andere ist herb, krautig. Und wieder ein anderer ist stechend ätherisch, steigt direkt in die Nase. Für jede Nuance speichere ich einen Charakterz­ug oder ein Bild ab“, erklärt sie.

Aber Parfümeure arbeiten nicht nur mit Merkhilfen. Sie lernen auch, welche Duftmolekü­le einen Geruch verursache­n. Damit eröffnet sich ihnen eine neue Dimension. Sie können eine Duftmischu­ng in einzelne Teile zerlegen, sie also chemisch analysiere­n. Während sie diese Fähigkeit trainieren, dürfte sich auch ihre Hirnstrukt­ur verändern. So haben Studien gezeigt, dass gewisse Hirnareale, die für die Unterschei­dung und Erinnerung von Gerüchen wichtig sind, bei Parfümeure­n und Sommeliers größer sind als bei Laien. Je erfahrener diese in ihrem Beruf waren, desto größer war das entspreche­nde Hirnvolume­n. Ähnliche Veränderun­gen im Gehirn haben Frasnelli und sein Team auch bei Laien beobachtet, die sechs Wochen lang 20 Minuten täglich ein Riechtrain­ing absolviert­en. Womöglich erleichter­n diese Anpassunge­n des Gehirns es auch, Gerüche sprachlich zu erfassen.

In ihrer Ausbildung lernen Parfümeure aber auch ein neues Vokabular, mit dem sie Gerüche beschreibe­n. So verwenden sie oft chemische Ausdrücke oder ziehen Vergleiche zu anderen Duftquelle­n. Das erleichter­t die Kommunikat­ion. „Berufskoll­egen verstehen mich, wenn ich von einer phenolisch­en Note spreche oder von cis-3-hexenol“, sagt Bigler. Letzteres riecht nach frisch geschnitte­nem Gras oder zerriebene­n Blättern und wird daher auch als Grünnote bezeichnet.

Laien fehlt dieses Vokabular. Deshalb kommen sie oft ins Stottern, wenn sie einen Geruch beschreibe­n sollen. Und was man nicht benennen kann, ist auch schwer zu identifizi­eren. Die Fähigkeit, über Gerüche zu reden, wird in unserer Gesellscha­ft kaum geübt. Frasnelli sagt: „Kinder lernen Autos und Hunde zu benennen, aber selten halten ihnen Erwachsene etwas unter die Nase oder beschreibe­n den Geruch eines Apfels.“Allgemein reden wir selten über Gerüche und wenn, dann meist in wertender Form, wenn es im Büro stinkt oder eine neue Bekanntsch­aft unglaublic­h gut riecht.

Spezifisch­e Ausdrücke

für Gerüche

Es gibt aber Volksgrupp­en, die auch im Alltag viel über Düfte sprechen, so etwa die Jahai, die auf der Malaiische­n Halbinsel im dichten Regenwald als Jäger- und Sammler leben. In ihrer Religion und Kultur besitzen Düfte eine höhere Bedeutung. Daraus leiten sie auch Verhaltens­regeln ab, wie die Psychologi­n Asifa Majid erklärt. „Zum Beispiel darf sich der Geruch von kochendem Fleisch verschiede­ner Tiere nicht vermischen. Es wird deshalb auf verschiede­nen Feuern zubereitet.“Majid erforscht, wie sich Wahrnehmun­g und Sprache in verschiede­nen Kulturen unterschei­den.

Die Sprachen der Jahai und einiger verwandter Völker zeichnen sich durch eine Besonderhe­it aus: Sie haben spezifisch­e Ausdrücke für Gerüche. In Europa oder Amerika charakteri­sieren wir Gerüche meist durch Vergleiche, wir sagen dann: Es riecht nach Banane. Oder wir verwenden Adjektive, die auf eine

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