Eine Initiationsreise gegen das Vergessen
Anlässlich seines 75. Geburtstages hat Christian Boltanski, Ausnahmekünstler der internationalen Avantgarde, die umfangreiche und zugleich schonungslose Ausstellung „Faire son temps“im Centre Pompidou in Paris eingerichtet.
Der technoide Charme des Gebäudes mit seinen freigelegten Innereien bietet dem Werk eine adäquate, offene und großzügige Architektur. An die 40 Werke aus nahezu 50 Schaffensjahren sind auf 2 000 Quadratmetern zu verdichteten Erfahrungsräumen zusammengefügt. Jedes einzelne Werk steht für sich und erscheint zugleich als Fragment des Gesamtoeuvres. Alles, was nun Teil dieses neuen Ganzen wird, nimmt selbst neue Eigenschaften an und wirkt in der Ansammlung verstärkt. Die Werkschau führt den Besucher durch dunkle Welten, in deren Mittelpunkt die Themen Vergänglichkeit, Tod und Erinnerung stehen, die auf eine Weise behandelt sind, dass sie an Schwere und Aussichtslosigkeit kaum zu überbieten sind. So gelingt es dem Künstler, entgegen aller Schnelllebigkeit, Momente der nachhaltigen Kontemplation und Reflexion, auch der Erschütterung, entstehen zu lassen.
Christian Boltanski wurde 1944 in Paris als Sohn eines jüdischen Vaters und einer katholischen Mutter geboren. Früh bedrückte ihn die Tatsache, dass die Freunde seiner Eltern „Überlebende“waren. Als Künstler ist Boltanski Autodidakt. Während er zwischen 1957 und 1968 malerisch tätig war, distanzierte er sich bald von der Malerei, um sich dem Kurzfilm zu widmen. Die Fotografie wurde ein wichtiges Arbeitsmaterial. Ab den 1970er-jahren schuf er Inventar-installationen, die auch das Fragile unserer Lebensentwürfe aufzeigten. Er verwischte zunehmend die Grenzen von Fiktion und Wirklichkeit, wenn er Inventare von persönlichen Gegenständen von bekannten, unbekannten oder fiktiven Personen zusammenstellte. So hinterfragte er auch, wie Erinnerung überhaupt funktioniert.
1972 nahm er an der von Harald Szeemann ausgerichteten documenta 5 in Kassel in der Abteilung „individuelle Mythologien“teil. 1986 stellte er in der Chapelle de la Salpêtrière in Paris aus. Es war das erste Mal, dass er eine in situ Installation machte und Lichtelemente einbaute. Die sogenannten Monumente, bei denen er Schachteln, Fotografien und Lampen altarähnlich anordnete, gewannen an Bedeutung. Seit 1998 gestaltet er seine Ausstellungen, als seien es eigenständige Werke.
Seit 2008 entwickelt er bewusst Werke, die sich auf entlegenen Orten der Welt befinden. Die Legenden, die um die Arbeiten entstehen, werden ihm wichtiger als die Objekte selbst. Sein Oeuvre wurde bisher mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet, z. B. mit dem Praemium Imperiale (2006). 2011 bespielte er den französischen Pavillon auf der Biennale in Venedig. Seine Werke befinden sich heute in den wichtigen Sammlungen weltweit, u. a. des Museum of Modern Art in New York, der Tate in London und des Centre Pompidou in Paris.
Christian Boltanski lebt und arbeitet in einem Vorort von Paris, in Malakoff und ist mit der Künstlerin Annette Messager (geb.1943) verheiratet. Sein Atelier ist seit zehn Jahren rund um die Uhr videoüberwacht, denn er hat um sein Leben gewettet. Dabei handelt es sich um eine seiner radikalsten Arbeiten: Boltanski verkaufte dem australischen Multimillionär und Sammler David Walsh seinen künstlerischen Alltag: Bis zum Ableben des Künstlers darf Walsh dessen Leben und Schaffen im Atelier mit fest installierten Webkameras filmen.
Die aktuelle vom Künstler selbst eingerichtete Schau in Paris wird zu einem Gesamtkunstwerk, das uns mit allen Sinnen packt. Die betretbaren Räume Boltanskis haben etwas Klandestines; seine Kunst etwas von Spurensuche. Boltanski stellt Erinnerungsobjekte (z. B. alte benutzte Kleidung oder Fotos aus Familienalben) in anthropologischer Weise in Vitrinen zusammen und wirft zugleich die Frage auf, in welchem Maße die ausgestellten und abgelebten persönlichen Gegenstände eines Menschen seine Identität widerspiegeln oder bezeugen können.
Berühmt sind die altarähnlichen Inszenierungen von Boltanski, die rostenden blechernen Keks-schachteln und deren Reihung zu Mauern. Bekannt sind auch die an elektrischen Kabeln rhythmisch von der Decke hängenden nackten Glühbirnen, die punktuell ein diffuses kaltes Licht in einem dunklen Raum erzeugen. Boltanski scheint mit den geringsten Mitteln etwas tief im Menschen berühren und aufrütteln zu können. Alles in seinem Werk scheint sich um Tod und Auslöschung zu drehen. Personen sind auf Namen reduziert, auf eine Schachtel, auf ein Datum.
Es geht auch um das Fragile unserer Erinnerung. Es gibt keine Erläuterungstexte und die Installationen gehen fast nahtlos ineinander über. Seine Ausstellung bietet keinen Raum für Erholung. Boltanski nennt die Ausstellung bewusst nicht Retrospektive, sondern einen zu beschreitenden Weg. So nimmt der Künstler uns mit auf eine Initiationsreise gegen das Vergessen und das Vergessenwerden. Die Worte départ und arrivée, mit leuchtenden Glühbirnen gestaltet, markieren dabei das Alpha und Omega der Ausstellung.
Alles scheint sich um Tod und Auslöschung zu drehen
wie unsere Existenz, jeden Moment einzustürzen. Zugleich wirft diese Arbeit die Fragen auf: Was weiß ich über einen Menschen, nur weil ich sein Abbild sehe? War er gut? War er böse? Alles was ich weiß ist, er war Mensch und jetzt ist er tot und die Erinnerung an sein Leben scheint auf eine Keksschachtel reduziert.
Am Boden eines weiteren Raumes liegen zahllose Glühbirnen an elektrischen Kabeln, die aus einem Loch in der Fußleiste hinauszuströmen scheinen. Bei dieser Arbeit mit dem Titel Crépuscule (2015) erlischt jeden Tag eine Glühbirne bis am Ende der Ausstellung alle aus sind. Während der Laufzeit seiner Ausstellung entwickelt sich demnach das Werk von einem strahlend hellen zu einem dunklen, unbeleuchteten Raum und thematisiert so das Vergehen von Zeit.
Nachdenken über die Endlichkeit des Seins
Boltanski hebt in seinem Gesamtwerk das Menschsein hervor. Er schafft Erinnerungsräume. Es sind Orte des verdichteten Erlebens, Orte, die zum Nachdenken anregen, über die Endlichkeit des Seins, über das eigene Verhältnis zu diesen existenziellen Themen. Seine Arbeiten sorgen für Staunen und Irritationen und können nicht schnell „konsumiert“werden. Sie bieten jedoch eine Möglichkeit, sich ergreifen zu lassen. Allenfalls fordern sie eine Auseinandersetzung, die nicht jeder zulassen kann oder will.
In der Dichte mag es so manchen an die Grenze des Erträglichen bringen. Boltanski beschreibt sein Werk als eine „Kunst des Scheiterns“, da das Inszenieren von Erinnerungsstücken eines Menschen seine Abwesenheit umso quälender vor Augen führt. Es ist das verzweifelte Ringen des Menschen, gegen das Vergessenwerden anzutreten. In seiner Kunst baut Boltanski eine andere Wirklichkeit auf, ein übersinnliches Universum, einen Zustand des Schwebens, von Zerbrechlichkeit und Zerstörung geprägt. Boltanski meint, dass sein Interesse für die Vergänglichkeit ihm beigebracht habe, jeden Moment wertzuschätzen.
Auf multiple Weise führt uns Boltanski den existentiellen Charakter von Kunst vor Augen. Bei ihm wird Kunst zur Initiationsreise, die Fragen an den Tod und an das Leben aufwirft. Mit seiner Pariser Ausstellung schafft Boltanski ein modernes, vielgestaltiges Vanitasbild, ein raumübergreifendes memento mori, das uns anspornt, uns selbst in unserem fragilen Lebensgefüge neu zu verorten. Eine fordernde Schau, die uns unerbittlich auch die eigene Vergänglichkeit vor Augen führt und das Verfliegen der Zeit einmal mehr schmerzhaft bewusst macht.
Christian Boltanski, „Faire son temps“. Im Centre Pompidou, Paris noch bis zum 16. März 2020.