Berlinale hat mit „Dau. Natasha“ihren ersten Skandal
Gewalt im Filmbeitrag von Ilya Khrzhanovskiy steht in der Kritik – und sie wirft gleich mehrere Probleme auf
Berlin. Die Folterszenen im Berlinale-beitrag „Dau. Natasha“sind schwer zu ertragen. Auch die Produktionsbedingungen des Projekts stehen in der Kritik. So ist der Film der erste Skandal des Festival.
Ukraine, 1952, 1953: Zwei Frauen, Natasha und Olya, arbeiten in der Kantine eines geheimen sowjetischen Forschungsinstitutes. Sie bedienen die Wissenschaftler und Soldaten, plaudern über die Liebe, feiern mit ihren Kunden, man trinkt, singt, liegt sich in den Armen. Natasha landet mit dem Wissenschaftler Luc Bige im Bett. Danach erzählt sie Olya von ihren Liebhabern: der sanfte Luc, der fordernde Blinov! Später wird wieder getrunken. Worauf? Auf die gegenseitige Abscheu! Danach Selbstmitleid und Katzenjammer.
Langweilig? Wer den zweiten Teil des 145-Minüters sieht, sehnt sich zurück nach den Exzessen des ersten. Natasha wird verhört. Offizier
Vladimir Azhippo schlägt sie, reißt ihr die Kleider vom Leib, zerrt sie an den Haaren durch die Zelle, drückt ihren Kopf in die Toilette, flößt ihr Schnaps ein; er zwingt sie, eine Flasche in ihre Vagina einzuführen. Danach unterschreibt sie, was sie unterschreiben soll, verpflichtet sich zur Mitarbeit, belastet ihren Liebhaber, flirtet mit ihrem Folterer. So siegt die Gewalt über das Gute.
Auch wenn es in den sowjetischen Folterkellern und Straflagern schlimmer zuging: Diese Szenen sind schwer zu ertragen.
2005 ging es los. Im Osten der Ukraine entstand auf einem großen Gelände jenes Filmset, in dem Ilya Khrzhanovskiy das Projekt „Dau“inszenierte. In einem simulierten Forschungsinstitut lebten mehr als 400 Personen jahrelang in einer scheinbar sowjetischen Welt. Essen, Kleidung, Reinigungsmittel, Hygieneartikel: Alles
musste aussehen, riechen und schmecken wie früher.
Auch was zwischen den Menschen passierte, sollte authentisch sein. Denn es wurde gefilmt. Starkameramann Jürgen Jürges drehte Tag und Nacht. Mehr als 700 Stunden Filmaufnahmen kamen zusammen; bisher wurden daraus mehrere Filme und eine Serie geschnitten.
In „Natasha“folgt die subjektive Kamera von Jürgen Jürges ihren Objekten, zeigt, was Azhippo mit Natasha macht. Das tut weh. „Alle Gefühle sind real, aber die Umstände sind nicht real“, sagte der Regisseur auf der Pressekonferenz
zum Film. Darin liegt das große ästhetische Problem von „Dau. Natasha“: Über die Simulation historischer Wirklichkeit soll ein kollektives Reenactment entstehen – ein enormes Missverständnis. Die Simulation ist die stumpfeste aller Formen von Repräsentation. Warum lässt der Regisseur einen Folterer von einem Mann „spielen“, der für den KGB folterte? Ist das geschmacklos? Oder einfach nur widerlich? Wer von den Produktionsbedingungen des Dau-projekts gehört hat, betrachtet Suff, Sex und Folter als Voyeur: Haben die das wirklich getan? Die Antwort: Ja.
Solches Simulieren verhöhnt die wirklichen Opfer des Stalinismus. „Die Gewalt war eingegrenzt“, sagte Khrzhanovskiy in Berlin und räumte ein, dass beim Dreh bloß graduelle Unterschiede zum realen Schrecken bestanden. Damit gilt das Mitleid der Zuschauer den
Darstellern, nicht den Dargestellten.
Dass es zu solchem Mitleid Anlass gibt, ist das zweite Problem. Seit Jahren kursieren Berichte über menschenverachtende Praktiken am Set, dort sei es „sektenhaft und manipulativ“zugegangen, heißt es zuletzt in der Berliner „tageszeitung“. Khrzhanovskiy wischt sämtliche Vorwürfe vom Tisch: „Das sind alles Gerüchte.“Hat die Berlinale ihren ersten handfesten Skandal?
„Dau“-mitarbeiter mussten eine Verschwiegenheitserklärung unterzeichnen, auch sonst fahren Khrzhanovskiy und sein Team eine äußerst restriktive Informationspolitik. Doch die Vorwürfe, die im Raum stehen, müssen geklärt werden. Doch auch wenn es gelänge, Khrzhanovskiy zu entlasten: An dem unguten Gefühl beim Betrachten von „Dau. Natasha“würde das nichts ändern. KNA