Der Spielmann
Der ganze Platz versank im Chaos, Menschen schrien, heulten und rannten, einige wurden niedergetrampelt und blieben leblos liegen, andere warfen sich auf den Boden und beteten zu Gott und allen Heiligen. Wer konnte, flüchtete sich in die Gassen rund um den Marktplatz oder in eines der angrenzenden Häuser.
Nur Johann blieb ruhig stehen und betrachtete den Teufel, der zu ihm herabgrinste. Er war ihm nicht schlecht gelungen, wenn auch einige Pinselstriche zu dick aufgetragen waren. Außerdem hatte Satan eher Kuh- als Ziegenhörner, und der Bocksfuß sah aus wie ein verwischter Tintenklecks.
Ein satanisches Rindvieh, dachte er. Mehr bekommst du nicht zustande. Was für eine jämmerliche Posse für einen Magister, einen Doktor gar!
Johann seufzte. Es wurde wirklich Zeit, dass ein Talentierterer das Malen übernahm.
Er pfiff Satan zurück, dann ging er mit schnellen Schritten hinüber zu dem zweiten Scheiterhaufen, an dessen Pfahl immer noch entsetzt und am ganzen Leib zitternd der Jüngling lehnte. Er mochte etwa achtzehn Jahre alt sein, vielleicht auch zwanzig. Sein bartloses Gesicht war von Ruß geschwärzt, Beinlinge und Hemd zerrissen und an einigen Stellen angekokelt, doch ansonsten schien er unverletzt. Einer der Bauernführer hatte vorher noch seine Fackel auf die Scheite geworfen, glücklicherweise war bislang nur die rechte Seite des Holzstapels in Flammen aufgegangen.
Es würde jedoch nicht mehr lange dauern, bis der ganze Scheiterhaufen lichterloh brannte.
Johann zog sein Messer hervor und zerschnitt die Seile, die den Jüngling an den Pfahl fesselten. Sie bestanden aus mehrfach gewickeltem Hanf und waren zusätzlich mit Wasser getränkt, um nicht so schnell Feuer zu fangen.
Bebend und mit großen Augen starrte der junge Mann seinen Befreier an, der nun immer hektischer an dem Seil säbelte.
„Seid … seid … Ihr etwa der Teufel?“, hauchte der Jüngling.
„Nein, aber wenn wir uns nicht beeilen, wirst du ihn bald kennenlernen.“
Wenige Augenblicke später hatte Johann das Seil durchtrennt. Mit seinen Lederstiefeln trat er ein paar der brennenden Scheite zur Seite, dann packte er den Jüngling am Arm und zog ihn weg von der Feuerstelle, wo die Flammen nun immer höher schlugen. „Schnell, bevor das Lampenöl in der Laterna runtergebrannt ist!“
„Das … das … Lampenöl …? Aber …“
Beinahe willenlos ließ sich der Bursche mitschleifen. Noch waberte Rauch über den Platz, doch er wurde bereits schwächer. Auch der Teufel schien sich langsam in
Luft aufzulösen. Johann beugte sich über den Kastenwagen, zog ein paar Hebel, und der Teufel verschwand so plötzlich, wie er gekommen war. Mit einigen weiteren Handgriffen waren Glasplatte, Tubus und Laterne im Inneren des Kastens verstaut.
Dem jungen Mann blieb vor Staunen der Mund offen. „Das … das ist Zauberei …“, begann er.
„Keine Zeit für lange Erklärungen. Hier, zieh das über und dann hilf mir, den Wagen wegzubringen! Alles Weitere später.“
Johann warf dem Jüngling einen dunklen, fleckigen Mantel mit Kapuze zu, den dieser schnell überzog. Nun sahen sie beide wie einfache Trödler aus, die sich mit ihren Mänteln gegen den Rauch schützten. Hastig schoben sie den schweren Kastenwagen über den Marktplatz, der mit fallen gelassenen Waffen, Fetzen von Kleidungsstücken und weggeworfenen Bündeln übersät war. Noch war der Platz bis auf ein paar Verletzte verlassen, doch schon trauten sich die ersten Neugierigen wieder hervor.
„Der Teufel ist verschwunden!“, rief einer von ihnen und sah hinüber zu dem brennenden Scheiterhaufen. „Und er hat den Sodomiten mit in die Hölle genommen!“
Johann lächelte schmal. „Gut so“, murmelte er. „Dann suchen sie uns nicht mehr hier im Diesseits.“
Zu zweit zerrten sie den Wagen durch die engen, schmutzigen Gassen unweit des Platzes; der große schwarze Hund folgte ihnen, wobei er die wenigen Menschen, die ihnen entgegenkamen, böse anknurrte. Keiner schöpfte Verdacht, alle waren viel zu sehr damit beschäftigt, einen Blick auf das Warnheimer Inferno zu werfen.
Nach einer Weile erreichten die beiden Fliehenden das Stadttor, das weit offen stand. Johann vermutete, dass sich die Wachen auf dem Marktplatz herumtrieben, wenn die Bauern und ihr verfluchter Haufen sie nicht vorher schon aufgespießt hatten. Ohne sich umzuschauen, hasteten sie weiter. In einem Wäldchen nicht weit vor den Stadtmauern stießen sie schließlich auf einen größeren Wagen, wie ihn Gaukler benutzten. Einige fremdartige Zeichen, darunter auch ein
Pentagramm, waren mit roter Farbe auf die Bespannung gepinselt. Ein dürrer Schimmel graste, an einen Baum gebunden, friedlich in der Nähe. Als er die beiden Männer kommen sah, wieherte er freudig und scharrte mit den Hufen.
Bislang hatte der junge Mann geschwiegen, doch nun hielt er es nicht mehr aus.
„Was … was hat das alles zu bedeuten?“, begann er. „Warum habt Ihr mich vor den Bauern gerettet? Wer seid Ihr?“
„Du wirst in Kürze alles erfahren“, unterbrach ihn Johann. „Jetzt hilf mir erst mal, das Pferd anzuschirren und die Laterna magica hinten einzuladen.“
Der Jüngling runzelte die Stirn. „Die Laterna …?“
„Himmelherrgott, nun halt endlich deinen plappernden Mund, oder ich serviere dich Satan zum Frühstück!“
Die schwarze Dogge bleckte knurrend die Zähne, und der junge Mann beeilte sich, mit Johann den Kasten vom Karren zu heben und im Inneren des Wagens zu verstauen. Für einen kurzen Augenblick erblickte er weitere Kisten und Truhen. Getrocknete Kräuter hingen von der Decke, es roch intensiv nach Branntwein und etwas Harzigem.
„Komm mit nach vorne“, befahl Johann, nachdem er das Pferd angeschirrt hatte.
Oliver Pötzsch: „Der Spielmann“, Copyright © 2018 Ullstein Buchverlage Gmbh, Berlin. ISBN 978-3-471-35159-8