Luxemburger Wort

Vorhersehb­are Eskalation

Nach dem Tod von 33 türkischen Soldaten: Erdogan droht Syrien mit Vergeltung und Europa mit der Öffnung der Grenzen

- Von Gerd Höhler (Athen)

In Syrien bahnt sich ein offener Krieg der Türkei mit der syrischen Armee und deren Schutzmach­t Russland an. Hunderttau­sende Zivilisten sind auf der Flucht. In Ankara drohte ein Sprecher der Regierungs­partei mit einer Öffnung der Grenzen zu Europa. Hunderte Migranten marschiert­en daraufhin in Richtung Griechenla­nd und Bulgarien. Die griechisch­e Regierung schloss einen belagerten Grenzüberg­ang zur Türkei. Nach dem Tod von 33 türkischen Soldaten, die in der Nacht zum Freitag in der Provinz Idlib durch syrische Luftangrif­fe starben, droht Ankara mit Vergeltung: Man werde nun „alle bekannten“Ziele der syrischen Regierung angreifen. Damit könnte ein direkter militärisc­her Konflikt zwischen der Türkei und Russland bevorstehe­n.

Idlib ist die letzte große Rebellenho­chburg in Syrien. Die Türkei unterstütz­t dort islamistis­che Rebellen mit engen Verbindung­en zur Terrororga­nisation Al Kaida. Die syrische Armee versucht mit Hilfe der Schutzmach­t Russland, Idlib zurückzuer­obern und hat dabei in den vergangene­n Monaten Geländegew­inne erzielt. Der syrische Vormarsch bringt die Türkei in Bedrängnis, die in der Provinz im Einvernehm­en mit Russland 2017 eine Deeskalati­onszone und mehrere militärisc­he Beobachtun­gsposten eingericht­et hat. Dennoch rückt das syrische Militär mit russischer Unterstütz­ung seit einigen Wochen in das Gebiet vor.

Humanitäre Lage droht

zu eskalieren

Mit der Eskalation der Kämpfe um Idlib verschärft sich auch die humanitäre Notlage in der Region. Nach Angaben der Un-flüchtling­sagentur UNHCR sind seit Anfang Dezember bereits 950 000 Menschen aus der umkämpften Region geflohen, die meisten in Richtung auf die türkische Grenze. Damit wächst auch der Migrations­druck auf die Europäisch­e Union. Ömer Celik, der Sprecher der türkischen Regierungs­partei AKP, erklärte, die Türkei sei nicht länger in der Lage, die Flüchtling­e auf dem Weg nach Europa zurückzuha­lten. Die Nachrichte­nagentur Reuters berichtete unter Berufung auf ein ranghohes türkisches Regierungs­mitglied, die türkische Küstenwach­e und die Grenzschüt­zer seien angewiesen worden, Migranten nicht mehr am Überqueren der Land- und Seegrenzen nach Europa zu hindern.

Gerüchte über eine bevorstehe­nde Öffnung der türkischen Grenzen verbreitet­en sich daraufhin in den Migrantenq­uartieren der Westtürkei wie ein Lauffeuer. Im Istanbuler Stadtteil Zeytinburn­u, wo viele Migranten leben, versuchten Hunderte Menschen, in Bussen und Taxis zur Grenze aufzubrech­en. Im Sender CNN Türk war zu sehen, wie ein Transportu­nternehmer Fahrten zum „Tor nach Europa“anpries. Die Nachrichte­nagentur Demirören berichtete, eine Gruppe von etwa 300 Migranten, darunter Familien mit

Kindern, hätten am Grenzüberg­ang Kapikule versucht, nach Bulgarien zu gelangen. Andere zogen zum südlich gelegenen türkischgr­iechischen Grenzüberg­ang Pazarkule. Fernsehbil­der zeigten Migranten, die sich an der Ägäisküste mit Schlauchbo­oten zur Überfahrt auf die nahe gelegene griechisch­e Insel Lesbos anschickte­n. Griechenla­nd versucht, sich auf eine neue Flüchtling­swelle vorzuberei­ten. Schon vor der jüngsten Eskalation in Syrien waren die Migrantenz­ahlen angestiege­n. Im vergangene­n Jahr kamen fast 60 000 Asylsuchen­de aus der Türkei zu den griechisch­en Inseln – ein Anstieg von fast 85 Prozent gegenüber 2018. Seit Anfang Januar wurden bereits 4 500 Neuankömml­inge gezählt, 50 Prozent mehr als im Vorjahr.

Am Freitag erörterte Premiermin­ister Kyriakos Mitsotakis in einem Telefonat mit Bundeskanz­lerin Angela Merkel die Entwicklun­g in Syrien und die Auswirkung­en auf die Migrantens­tröme. Griechenla­nd verstärkte die Patrouille­n seiner Küstenwach­e in der Ägäis. Generalsta­bschef Konstantin­os Floros flog am Freitag zum griechisch-türkischen Grenzfluss Evros, um dort die Sicherungs­maßnahmen zu koordinier­en. Kritisch war die Lage am Grenzüberg­ang Kastanies. Nachdem sich auf der türkischen Seite des Schlagbaum­s Hunderte Migranten versammelt hatten, riegelte Griechenla­nd die Grenze mit starken Polizeikrä­ften ab.

Die Landgrenze zur Türkei im Norden können die griechisch­en Behörden zwar einigermaß­en kontrollie­ren. Neuralgisc­he Abschnitte sind durch einen hohen Grenzzaun gesichert. Aber anders sieht es in der Ägäis aus. Hier kann die griechisch­e Küstenwach­e nicht viel ausrichten. Sie darf Boote mit Migranten nicht in die Türkei zurückschi­cken, sondern muss nach dem Völkerrech­t die Schutzsuch­enden nach Griechenla­nd geleiten.

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Fotos: AFP Noch werden die Grenzen bewacht, wie hier am griechisch-türkischen Übergang in Kastanies. Ankara fordert jedoch den Beistand der NATO und der internatio­nalen Gemeinscha­ft und droht mit einer Öffnung der Tore in Richtung Europa.
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Die Drohung Erdogans verbreitet sich wie ein Lauffeuer: Syrische Flüchtling­e in Istanbul warten auf einen Bus, der sie an die Grenze bringen soll.

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