„Alle hatten Angst“
Abbas Khiders „Palast der Miserablen“und eine kaputte Jugend im Irak der 1990er-jahre
In einer Diktatur aufwachsen und mehrere Kriege miterleben zu müssen, ist schlimm genug und prägt wohl ein ganzes Leben. Als Kind armer Leute aus dem Süden des Irak im Blechviertel aufwachsen, in der Schrottstadt hinter Saddam City, weit entfernt von Bagdads Zentrum, und das in den 1990er-jahren – das ist das blanke Elend. Man liest von einer sehr fremden Welt, von unfreien Menschen im brutalen Kampf ums Überleben, von einer Gesellschaft, die Heranwachsenden kaum je erlaubt, sich ihrer selbst bewusst zu werden. Und doch: Shams, der Held des Romans „Palast der Miserablen“, findet irgendwie einen Weg aus der Angst, der Armut, der Bildungsferne, der Zwangsjacke atavistischer Traditionen und der allgegenwärtigen Gewalt. Vorerst jedenfalls.
„Palast der Miserablen“kommt als Familiengeschichte daher, doch deprimierende Szenen aus dem Kerker strukturieren den in sechzehn Kapitel aufgeteilten Erzählfluss und verweisen auf ihr bitteres Ende. Idyllisch ist sie von Anfang an nicht. Shams und seine Schwester Qamer sind umgeben von stets besorgten Eltern und einem Großvater, dessen Lästermaul die Familie immer wieder in Gefahr bringt. Ihr Dorf kennt weder Strom noch fließendes Wasser und Spitzel gibt es auch.
Saddams Truppen haben Kuwait besetzt und geplündert, nicht ohne Folgen: Es gibt Krieg, und mit ihm kommen die Bomben der Alliierten. Vater muss zum Militär. „Alle hatten Angst“.
Im auf gewaltigen Müllbergen illegal errichteten Blechviertel wird eine Hütte gebaut. Der Vater arbeitet als Handwerker, die Mutter putzt in der Moschee und betätigt sich als Wahrsagerin, Shams und Qamer verkaufen Trinkwasser oder Plastiktüten – und kommen langsam in die Pubertät. „Jedes Mal, wenn Saddams Männer kamen, verstummte das Lachen, verstummten die Gespräche und all die anderen Geräusche des Lebens, aber sobald die Partei verschwunden war, wurde es wieder laut“.
Flucht in die Literatur
Shams hat es täglich mit Rabauken zu tun, die mit Messern und Rasierklingen herumfuchteln. „Vermutlich ist die Liste der verschwundenen Mädchen in Bagdad länger als die Flüsse Tigris und Euphrat zusammen“, sagt Qamer.
Shams liest „Erotische Storys“von Alberto Moravia und wird süchtig nach Büchern. „Lesen und Schreiben wurden zu einem Beruhigungsmittel für mich, zu einem Ventil für meinen pubertären Hormonüberschuss“. Zürich, London oder Wien, die „andere Welt“, von der er manchmal hört, scheinen weiter entfernt als der Mond. Shams entdeckt den Bücherbasar mit seinen Literaturcafés und lernt regimekritische Literaten kennen. Er, der Outsider aus der Schrottstadt, darf an ihren Lesungen und Diskussionen teilnehmen: „Das also waren wir, acht Literaturbegeisterte in der Wohnung eines Blinden. Der Palast der Miserablen“. Die Literatur wird seine Welt, und sie bleibt es gerade auch in schlechten Zeiten. Und die kommen schnell: Arbeitslosigkeit und Hunger im ganzen Land. Shams müsste dringend Geld verdienen. Die Schule abbrechen? Das würde 24 Monate Militär bedeuten. Der einzige Lichtblick weit und breit, der geliebte Palast der Miserablen, zerfällt allmählich. Shams wird Buchhändler, und bald vertreibt er unter Lebensgefahr auch verbotene Schriften. Obendrein beginnt der nächste Krieg. Die Folge: Aufstände, Hausdurchsuchungen und „Säuberungen“, auch im Blechviertel. Shams schlägt sich durch: Abitur, Universität. Und Mädchen. Bis das Regime zuschlägt und ihn so lange und brutal foltert, bis er gesteht. Das Ende einer Jugend, die keine war.
Abbas Khider, 1973 in Bagdad geboren, 1996 aus dem Irak geflüchtet und seit 2000 in Deutschland, hat sich mit den Romanen „Der falsche Inder“(2008), „Die Orangen des Präsidenten“(2011), „Brief in die Auberginenrepublik“(2013) und „Ohrfeige“(2016) in die vorderste Reihe deutscher Schriftsteller geschrieben. Wie immer ist seine literarische Fiktion autobiografisch grundiert, und wie immer schreibt Khider klar und verständlich, unverschnörkelt realistisch, direkt und spannend. Doch seine Sprache ist geschmeidiger geworden, genauer und eleganter.
Zu erzählen hatte er schon immer mehr als genug, viel mehr jedenfalls als die meisten seiner schreibenden Generationsgenossen. Jetzt aber folgt man nicht nur atemlos der sich oft geradezu überschlagenden Romanhandlung, sondern freut sich auch über deren souveräne sprachliche Darstellung. „Palast der Miserablen“ist Abbas Khiders bisher bestes Buch.
Abbas Khider: „Palast der Miserablen“,
Carl Hanser Verlag, 319 Seiten,
23 Euro