„Das wird ein riesiger Lernprozess“
Ein Luxemburger im Vatikan: Jean Paul Muller über Krisenerscheinungen und Solidarität in Corona-zeiten
Auch im Vatikan herrscht in Coronazeiten Ausnahmezustand. Niemand darf mehr in die Kirchen, doch die Liveübertragungen von Papstmessen sind gefragt, wie Jean Paul Muller dem „Luxemburger Wort“berichtet. Der 1957 in Grevenmacher geborene Ordensmann ist seit 2011 Generalökonom, also weltweiter Finanzchef der Salesianer Don Boscos in Rom. Zudem ist er Conseiller ecclésiastique der luxemburgischen Botschaft beim Heiligen Stuhl.
Jean Paul Muller, Sie befinden sich in Ihrer Residenz in Rom und stehen unter Quarantäne. Wie geht es Ihnen?
Gut. Die Quarantäne unterscheidet sich nicht viel vom Alltag in Italien. Das heißt, ich bin eh gefangen in meinem Büro und in meinem Zimmer. Aber das ist kein Problem.
Sie sind erst vor wenigen Tagen in Turin bei der Hauptversammlung, dem Generalkapitel Ihres Ordens, der Salesianer Don Boscos, gewesen. Dort sind Sie auch als Generalökonom wiedergewählt worden.
Genau, aber das mussten wir abbrechen. Wir waren 260 Personen aus 132 Ländern. Die Behörden haben uns gezwungen, die Versammlung abzubrechen; wir durften noch die Wahlen abhalten. Ich bin wieder zurück nach Rom; die anderen versuchten alle, nach Hause zu kommen. Aber manche, zum Beispiel die Mitbrüder von Haiti oder Timor: Da sind die Grenzen total zu, da fliegt kein Flugzeug mehr rein. Aber auch die Us-amerikaner hatten Schwierigkeiten. Fast alle müssen da, wo sie letztlich unterkommen, in Quarantäne gehen, aber das ist okay. Selbst ich, der ja nur von Rom mit dem Zug zurückkam – das ging, es fahren noch ein paar Züge – musste Distanz halten, Maske tragen, Schutzvorschriften einhalten, damit ich die anderen nicht anstecke, falls ich das Virus in mir haben sollte.
Leben Sie direkt im Vatikan?
Nein, ich lebe mitten in der Stadt, am Bahnhof Termini. Wir haben hier unsere Weltzentrale des Ordens. Hier ist zum Beispiel auch das Büro der Luxemburgischen Botschaft beim Heiligen Stuhl. Im Moment sind wir 36 Priester und Brüder. Jeder hat sein eigenes Zimmer, seinen Arbeitsplatz, sein Büro. Es gibt eine Kapelle und einen Speiseraum, aber im Moment ist es etwas schwierig: Alle versuchen, Distanz zu halten im Speiseraum. Aber das geht, man kann so leben.
Don Bosco spielt ja gerade in Italien eine zentrale Rolle bei der Betreuung von Kindern und Jugendlichen. Wie schwer fällt es, in diesen Zeiten den direkten Kontakt zu vermeiden?
Die Kinder und Jugendlichen müssen in Italien derzeit alle zu Hause bleiben. Aber hier in Rom sind viele Wohnungen extrem klein, wenn man nicht gerade sehr reich ist und in einer Villa lebt.
Die ersten Tage war das toll, da musste man nicht in die Schule gehen. Aber mittlerweile ist es ein Drama für die Familien: Die Jugendlichen wollen raus und sich mit ihren Freunden treffen. Nur einer aus der Familie darf mal raus zum Einkaufen, alle anderen müssen drin bleiben; man ist auf engstem Raum beisammen. In unseren Freizeiteinrichtungen haben wir jetzt Onlinedienste eingerichtet. Die Jugendlichen können uns anrufen und sie können digital mit uns in Kontakt treten. Wir versuchen, die Leute zu vernetzen, Spiele zu entwickeln, Phantasiereisen etwa. Wir besprechen aber auch Probleme in dieser Krisensituation. Wir versuchen, sie zu begleiten.
Sie spüren also auch die Belastung bei den Jugendlichen?
Definitiv. Ein Jugendlicher, 14, 15 Jahre alt, will allein sein in seinem Zimmer, kann es aber nicht, weil sein Bruder oder seine Schwester auch da rumlaufen. Allein vom physischen Raum ist kein Platz da, um auszuweichen. Das ist eine ganz neue Situation; es gibt ein Problem der Aggression in manchen Familien. Wir betreuen auch die Mütter stärker – aber alles nur über Telefon, Skype oder Ähnliches. Wir helfen jetzt auch Familien, damit sie es finanzieren können, Internet einzurichten. Denn wenn man zu Hause skypen will, braucht man WLAN, das ist ein Kostenfaktor.
Teilweise wenden wir uns auch an die Eigentümer von Mehrfamilienhäusern, dass sie zentral WLAN einrichten. Dann ist mehreren Familien geholfen.
Jetzt ist auch im Vatikan Ausnahmezustand, oder nicht?
Genau. Es fing damit an, dass zunächst alle Botschaften, die beim Heiligen Stuhl akkreditiert sind, begonnen haben, ihre Treffen abzusagen. Auch der Vatikan hat Begegnungen reduziert. Mittlerweile ist er komplett abgeriegelt; wer rein will, muss nachweisen, warum, aber es wird auch gefragt, ob das tatsächlich sein muss. Bis vor ein paar Tagen musste ich gelegentlich mal zu den Behörden, um Unterschriften zu leisten, aber das ist jetzt auch runtergefahren worden.
Das heißt, es wird das erste Osterfest im Vatikan ohne die einfachen Gläubigen sein?
Ja, das hat der Vatikan entschieden. Ich glaube, der Papst war einer der ersten, der die Dimensionen verstanden hat und der den Leuten ein Vorbild geben will, drinnen zu bleiben. Es liegt natürlich in der italienischen Seele, dass man unbedingt in eine Kirche gehen und vor einer Madonna beten will. Aber der Papst hat ganz klar Nein gesagt: Bleibt zu Hause, betet zu Hause! Jetzt ist der Papst zu festen Uhrzeiten im Internet-livestreaming oder im Fernsehen zu sehen, wenn er die Messe oder einen Rosenkranz betet. Am Freitag in der Frühe haben sich da 170 000 Leute eingeklickt – um 7 Uhr! Da sieht man, dass das funktioniert. Und das brauchen die Leute hier.
Was auch sehr schön ist: Wenn das Fernsehen oder das Radio drei Lieder spielen und dann die Leute zur gleichen Zeit das Radio laut aufdrehen, das Fenster aufreißen und Azzuro singen.
In Luxemburg kann man noch in die Kirchen hineingehen und eine Kerze anzünden. Ist das in Italien nicht mehr möglich?
Nein, aber es gibt eine Ausnahme in Rom. Kardinal Krajewski, der sich im Auftrag des Papstes um die Obdachlosen kümmert, der hat eine Kirche aufgemacht, wo die Obdachlosen hinkommen und versorgt werden können. Sie müssen natürlich auch den Abstand einhalten, aber sie können eben auch dort übernachten. Denn für die Obdachlosen ist die Situation gerade besonders schwer: Sie können betteln, aber es ist keiner da, der vorbeikommt. Keiner, der ihnen Essen gibt. Das hat sich in Rom jetzt herumgesprochen, dass es diese Anlaufstelle gibt.
In schwierigen Zeiten war die Kirche immer eine wichtige Anlaufstelle. Jetzt ist kein direkter Kontakt zu den Gläubigen möglich. Kann diese Krise auch zur Krise für die Kirche werden?
Es gibt jetzt ein enormes Bedürfnis nach Telefonseelsorge; das ist rasant angestiegen. Die Kirche muss jetzt lernen, über andere Weise zu kommunizieren und auf andere Weise bei den
Wir helfen jetzt auch Familien, damit sie Internet einrichten können.
Die Kirche muss jetzt lernen, auf andere Weise bei den Menschen präsent zu sein.
Menschen präsent zu sein. Wir müssen ihnen bei diesen Dramen beistehen – vor allem im Norden, in der Gegend um Bergamo. Die Menschen dürfen ja jetzt nicht an Beerdigungen teilnehmen, egal, ob jemand an Corona stirbt oder an Krebs. Das ist ganz schlimm für die Menschen, dass das Militär die Särge abholt und zu einer Sammelstelle fährt, weil die Krematorien überfordert sind. Das ist ein Drama! In dieser Situation hat der Papst versucht, eine Ausnahmeregel zu bekommen, damit die Priester die Angehörigen in Notsituationen besuchen dürfen. Auf Dauer wird das ein riesiger Lernprozess für die Kirche sein, wie sie die Menschen in ihrer Not stärken kann. Und ich glaube, nach dieser Krise wird die Kirche sich viel stärker auf ihr ureigenes Aufgabenfeld konzentrieren: Auf die Vermittlung von Werten, die aus dem Evangelium kommen. Und manches andere – in welchen Gebäuden wir aktiv sind, wie wir uns organisieren – das wird nicht mehr so wichtig sein.
Was ist für Sie persönlich die Bibelstelle, aus der Sie Kraft schöpfen können?
Seit ich im Orden bin, hat mich die Stelle aus Lukas 7, 14 begleitet, in der Jesus spricht: „Ich sage dir, stehe auf!“Egal, wo ich bin, wenn es mal richtig schwierig wird, habe ich diese Botschaft im Hinterkopf.